»Das gewohnte Unglück liegt mir näher als das ungewohnte Glück,«
sagte Pfarrerin Jessica Grünenwald im Gottesdienst vom 7. März aus der Saalkirche Ingelheim zum Thema ‘Mut zum Aufbruch’.
Der Satz blieb hängen. Seltsamerweise speicherte ich ihn anders ab:
»Das Unglück von gestern liegt mir näher als das Glück von morgen,« vielleicht, weil ich beim Unglück an den Verlust meines Sohnes dachte. Dieses, mein gewohntes Unglück liegt im Gestern, es hat mich viele Jahre emotional gefangen genommen – und tut es manchmal noch heute. Wie kann eine verlassene Mutter sich vom gewohnten Schmerz befreien, dass ihr Sohn sie verlassen hat? Kann sie sich für ungewohntes Glück im Morgen öffnen, kann sie es sich gönnen?
Vor einiger Zeit habe ich mich mit der vielfach beschriebenen und erforschten transgenerationalen Weitergabe von traumatischen Erfahrungen befasst. Es ist meistens unbeabsichtigt, unbewusst und ungewollt, dass Angehörige einer Generation ihre Traumata, ihren Schmerz an ihre Liebsten der nächsten Generation weitergeben. Solches Leid ist unsagbar gross. Wer ist immun dagegen?
Manchmal frage ich mich, welch unbewusstes, vielleicht uraltes Leid mein Sohn in meinen Augen gesehen haben könnte, was ihn belastet hat, was er nicht mehr ertragen konnte, hinter sich lassen wollte (ihn vielleicht zeitweise hat irre werden lassen)? Inwiefern hat es mir an Einfühlungsvermögen gemangelt, weil meine Vorfahren sich keines leisten konnten? Haben auch sie den Schmerz über ein unverarbeitetes Trauma mitgeschleppt und weitergegeben, ein Trauma von welchem niemand etwas wusste.
Im Grübeln bin ich nach wie vor gut.
Wenn unsere Gedanken ständig um bekannte und unbekannte Schuld kreisen, kommen wir nicht weiter. Es sind die Kletten, die uns am Alten haften lassen. Oft sind die Fragen nach dem Warum die einzig verbliebenen Gedanken an unser verlorenes Kind. Im Suchen nach Gründen (die wir nie finden) bleiben wir am alten Unglück hängen. Wir sind blind für das Glück, welches uns möglicherweise auch noch wartet – während unser Kind uns schon längst losgelassen hat (vielleicht auch nicht), schon längst zu Neuem aufgebrochen ist (hoffentlich).
Wahrscheinlich wollte mein Sohn durch sein abruptes Handeln das gewohnte Unglück von gestern hinter sich lassen und das ungewohnte Glück von morgen finden. Möglicherweise hat er sich mit seinem Bruch tatsächlich einen grossen Gefallen getan – und mir und anderen auch? Vielleicht hat er (Ur)Altes abgeschüttelt, den Weg für Neues frei gemacht. Ich hoffe es. Wäre das nicht eine grosse persönliche Leistung? Ich werde es vermutlich nie wissen.
Was uns als persönliches Unglück erscheint, ist vielleicht viel mehr. Mir jedenfalls hilft dieser Gedanke, einen neuen Blick auf das gewohnte Denken über unser Unglück zu werfen. Diese Veränderung wirkt befreiend. Sie öffnet die Seele für das ungewohnte Glück, ein Glück, welches wir noch gar nicht kennen.
Ein schlechtes Gewissen ändert Vergangenes nicht. Gedanken an die positiven Möglichkeiten im Verlust sind zukunftsorientiert im Hinblick auf uns selbst und (hoffentlich) auch auf unsere verlorenen Kinder.
Lassen wir sie, lassen wir uns das ungewohnte Glück im Morgen finden.
Letztlich ist es Gnade – also allen möglich, allen verheissen.