Das Schönste ist…



Quelle: https://www.kulturverk.com/2016/05/11/simone-weil-partier-dreper-sannhet-og-rettferdighet/


Was ist für Sie das Schönste?
Nach schwerer Krankheit wieder reisen können?
Im Leben der eigenen Kinder eine Rolle spielen können?
Im Beruf etwas Bedeutsames erreichen können?
Für Simone Weil war das Schönste, in Bezug auf das, was man liebt nichts ändern wollen können:

Das Schönste ist das,
was man nicht ändern wollen kann.
Sich einer Sache bemächtigen,
heisst sie besudeln.
Besitzen heisst besudeln.
Mit reiner Liebe lieben,
heisst in den Abstand einwilligen,
heisst den Abstand verehren
zwischen einem selber
und dem was man liebt.
[1]

Simone Weils Worte haben mich in ihrer ganzen Sperrigkeit bewegt – auch irritiert. Leider kann ich sie nicht fragen, was sie meint mit:
»Sich einer Sache bemächtigen, heisst sie besudeln«.
Sie ist anno 1943 im Alter von 34 Jahren an Tuberkulose gestorben.
 
Das Schöne am «Nicht ändern wollen können« hat mich nachdenklich gemacht. Ist es nicht hart, wenn man etwas Schweres nicht verändern kann, beispielsweise den Kontaktabbruch durch einen geliebten Menschen oder Long Covid? Gesundheit ist ein hohes Gut. Ist es nicht begreiflich, dass Kranke wieder gesund werden wollen? Ist der Wille Kranker nicht gar eine Voraussetzung, wieder gesund zu werden?

In der Zeit der Kompetenzorientierung ist ‚Etwas können‘ ein Schlüsselfaktor für ein gelingendes Leben, wie beispielsweise Probleme nachhaltig lösen können, Gespräche geschlechtsneutral führen können, Informationen kritisch beurteilen können… . Wer seinen Willen geschickt einsetzt, kann jedes Ziel erreichen, suggerieren nicht wenige Beratungspersonen.

Simone Weil hat für sich ein Können der ganz anderen Art entdeckt: Nicht mehr verändern wollen. In ihrem Gedicht spricht sie von der Möglichkeit, respektvoll und aus freien Stücken in die unfreiwillige Distanz zu etwas Geliebten einwillige können. Möglicherweise sprach sie von der Akzeptanz ihrer körperlichen Schwäche oder von der Gottesferne.

Noch möchte ich vieles ändern können. Liebend gerne wollte ich die Funkstille zwischen mir und meinem Sohn ändern.
Werde ich jemals in den Abstand einwilligen und vom Wollen eines Wiedersehens ganz absehen können? Das hätte nichts mit Gleichgültigkeit oder Resignation zu tun, etwa weil man ja eh am kürzeren Hebel ist. Für Simone Weil ist es eine selbstbestimmte Übung in reiner Liebe. Und es ist Freiheit – vom Wollen-Können – von Ansprüchen an das geliebte Du.

Simone Weil war eine gläubige Frau. Sie suchte das Absolute. Aus Liebe zu Gott muss sie ihren eigenen Willen dem Willen Gottes unterstellt haben. Ihre Gottesliebe hat sie schreiben lassen:
»Das Schönste ist das,
was man nicht ändern wollen kann.«


[1] Simone Weil (1981): Schwerkraft und Gnade. München: Kösel Verlag,
gelesen in: Bernhard Meuser (2017): Am Ende des Tages. 365 Gebete und Impulse. Brunnen Basel: Fontis, Text zum 22. Mai.