(Selbst)Hass frisst die Seele auf


Warum brechen erwachsene Menschen den Kontakt zu ihren Eltern ab? Für die negativen Gefühle zwischen Eltern und Kind gibt es viele Gründe. Doch kaum jemand kann die komplexe Beziehungssituation voll erfassen.

Jeder Kontaktabbruch hat eine andere Geschichte

Familien bilden einen spezifischen, für die einen lebensfördernden, für andere lebenshemmenden eigenen Lebenskosmos aus. Wer kann erahnen, welche destruktiven und konstruktiven Energien die einzelnen Familienmitglieder einbringen und ausbilden? Bei Kindern, die ihre Eltern verlassen, muss es sich weder um aussergewöhnliche Kinder handeln (schliesslich ist jedes Kind besonders) noch um besonders lieblose Eltern (alle Eltern machen Fehler). Kinder, welche ihren Eltern den Rücken zukehren, stammen aus vollständigen Familien, sie haben geschiedenen oder alleinerziehende Eltern. Es sind Kinder von strengen oder weniger strengen Eltern, aus einem gläubigen oder säkularen Milieu. Es sind mehr oder weniger sensible Kinder, Kinder mit psychischen Auffälligkeiten oder ohne. Es kann überall geschehen, dass ein Kind für sich nur einen Weg sieht, um den eigene Selbstwert und Lebensweg zu entdecken: Kontaktabbruch.

Ist Selbsthass die fehlgeleitete Wut auf Eltern?

»Ich hasse meine Mutter«, hat mein Sohn vor Jahren seinem Bruder geschrieben.
Hass im Herzen verdrängt die Liebe zu Menschen und zur Welt. Er zerstört menschliche Beziehungen. Groll ist ein Einfallstor für böse Gedanken. Und umgekehrt.
Und dieses unheimliche Gefühl des Selbsthasses, oft verschüttet, ermattet die eigene Seele. Wer sich selbst hasst, versagt sich der Liebe. »Zuneigung habe ich nicht verdient«, mögen diese unglücklichen Menschen denken.
Könnte Selbsthass der tiefere Grund für die Ablehnung der Eltern sein?

Menschen, die sich selbst nicht mögen, lieben das Leben nicht, wären lieber erst gar nicht geboren worden. Lehnen sie deshalb die eigene Mutter ab, die Frau, die sie geboren hat – oder den Vater, der sie gezeugt hat? Ist der Kontaktabbruch eine Strafe für jene, die sie ungefragt in das Leben katapultiert haben? Ist es die Wut auf ein Leben, das sie sich so nicht gewünscht haben, in dem sie nicht sein können, was sie gerne sein möchten? Ist es das Gefühl, der Welt nichts bieten zu können? Überflüssig zu sein?
Viele Menschen sind zeitweise unzufrieden mit sich oder neidisch auf andere. Solche Lebenskrisen können sich als Quelle der Erneuerung erweisen. Was aber, wenn Selbstkritik in Selbsthass umschlägt oder den latent vorhandenen Selbsthass verstärkt – wenn Wut auf geliebte Nächste in Selbsthass mündet? Oder umgekehrt. Das sind unsagbar traurige Prozesse.

Dass mein Sohn sich im Innersten ablehnen könnte, dachte ich zum ersten Mal, als er nicht mehr leben wollte. Die Vorstellung, dass er sich (vielleicht noch heute, nach 25 Jahren) nicht liebenswert finden könnte, schmerzt mich sehr. Früher, als ich noch im Kontakt mit ihm war, schien er zwischen Überheblichkeit und Unsicherheit zu schwanken. »Hat er durch den Kontaktabbruch mit mir Selbstsicherheit gewinnen können?«, frage ich mich gelegentlich. Ich wünsche es ihm aus tiefstem Herzen.

Wir brauchen einen neuen Geist

Der Gedanke, dass mein Sohn sich selber hassen könnte (und aus diesem unerträglichen Gefühl heraus anderen grollt) ist schwieriger zu ertragen, als die Erfahrung, dass er mich hasst. Mit seinem Hass auf mich kann ich inzwischen umgehen. Dass er sich selbst ablehnen könnte, betrübt mich. Doch das muss ich ihm überlassen. Meine Ohnmacht hat mich demütig werden lassen. In meinen Träumen aber gibt es die Möglichkeit, dass er aus seinem Hass heraus findet, dass ich ihm meine Liebe erneut zeigen, und er sie zulassen kann, dass er vielleicht seiner Mutter die Fehler nachsehen, oder sie gar verstehen kann.

Ich bete täglich darum, dass mein Sohn seinem Leben viel Gutes abgewinnen und es lieben kann. Das ist nicht jedem in die Wiege gelegt worden. Mir auch nicht. Die Liebe zum Leben ist ein Geschenk des Heiligen Geistes. Es will immer wieder neu erbeten sein, wie im Psalm 51,12: »Erschaffe mir, Gott, ein reines Herz, und gib mir einen neuen, beständigen Geist!«

Gebet zu Pfingsten

Gott,
wie ein blasser Schmetterling
flattert mein Geist
zwischen alten Mauern ohne Ausgang.
Er findet in der Dämmerung die Blume nicht.

Heiliger Geist,
lass mich die Enge meines Seins überfliegen.
Schaffe in mir freien Raum
für helle Gedanken
und heitere Gefühle.

Komm Heiliger Geist,
verwehe jeden Hass,
und giesse deine Liebe
in alle Herzen ein.
Amen