Das Gute im Bösen

Wo aber die Sünde mächtig geworden ist, da ist doch die Gnade noch viel mächtiger geworden.

Römer 5, 20

Mein Mann und ich haben seit Jahren eine unterschiedliche Sicht auf den Mann, der aktuell die Welt in Atem hält. Mit einem Angriffskrieg auf die Ukraine habe ich, wie so viele, nicht gerechnet. Mein Mann hingegen betrachtet Wladimir Putin schon seit Jahren als unwahrhaftige, böse Person. Inzwischen sind wir uns in diesem Punkt einig.

Das Böse in Putin

Putin wohlgesinnte Menschen erkennen in ihm einen gedemütigten Mann, der die Trauer des ganzen russischen Volkes über den Verlust des Russischen Reiches auf seinen Schultern trage. Freunde aus Russland loben ihn für die Ruhe, die er dem Land nach dem Zerfall der Sowjetunion Ruhe gebracht hat. Putins wiederholte schwere Verletzungen von Menschenrechten und des Völkerrechtes wurden zwar regelmässig kritisiert, die Logik dahinter nur von wenigen erkannt. Mahner fanden kein Gehör. Man setzte auf Appeasement-Politik.
Die Kriege in Tschetschenien, Georgien, die Unterstützung von Assad in Syrien, die Besetzung der Krim, Vergiftungsattacken auf Regimekritiker und nun der Angriffskrieg der Ukraine müssen seit dem 24. Februar 2022 als Etappen eines eiskalten Strebens nach einem neuen Grossrussland gesehen werden. Das Umsetzen des Planes zeigt die unglaublich negative, zerstörerische, kaltblütige Willenskraft und den Grössenwahnsinn des Mannes im Kreml. Menschenleben zählen nicht, auch nicht Menschenrechte oder getroffene und von ihm selbst unterschriebene Vereinbarungen. Putin versetzt sich nicht in andere Menschen hinein, nicht in die Soldaten seines eigenen Landes, die er unvorbereitet in den Krieg ziehen lässt, nicht in die Eltern, deren geliebte Kinder er als Kanonenfutter nutzt, schon gar nicht in das Leid der Menschen in der Ukraine. Er droht, lässt töten, zerstören, foltern. Er unterdrückt jegliche Autonomie und Meinungsfreiheit. Bei diesem Autokraten muss sich die, in jedem Menschen angelegte Menschlichkeit ins Nichts aufgelöst haben.
Warum nur nehmen solche Egomanen immer wieder die verantwortungsvollsten Plätze der Welt ein? Wie kommt es, dass ein Verantwortungsträger (der auch Gutes im Sinne hatte) sich irgendwann in einer sehr kleinen Blase hoch über den Wolken, weitab vom Volk, als Eiskönig wiederfindet? Was passiert im Gehirn eines Menschen, in dessen Kopf Kriege geboren werden? Dieser Tage habe ich mir eingestanden, dass das Böse existiert, und mich gefragt:
Haben solche Menschen den Bezug zum ewig Guten abgeschnitten? Wollen sie selbst Gott sein und werden dabei teuflisch? Schweigt Gott?

Das Gute im Menschen

Die Wahrheit ist auch, dass das Gute existent ist. Gerade im Kontext des Schreckens sind in diesen Tagen des Krieges grossartige positive Kräfte entwickelt worden. Konstruktive Aktivitäten und Mitgefühl geben Kraft. Sie lassen das Unerträgliche besser ertragen, ich hoffe, im Kleinen wie im Grossen.
Der hartnäckige Widerstand des ukrainischen Volkes zur Verteidigung ihrer Freiheit beeindruckt. Die Menschen dort lassen sich ihre Freiheit viel kosten. Es ist auch unsere Freiheit! Wolodymyr Selenskyj ermutigt seine Landsleute und wächst dabei über sich hinaus. Die westlichen Staaten beschliessen gemeinsame Sanktionen gegen den Aggressor, die Schweiz definiert Neutralität neu und macht mit.
Die Herzen der Menschen weiten sich. Viele helfen konkret, bringen neue Schlafsäcke und Handys zu den Flüchtlingen an der Grenze, bieten ihre leeren Zimmer an, spenden Geld, geben ihrer Solidarität durch das Mitmarschieren an Demonstrationen ein Gesicht. Telekommunikationsanbieter erlassen Flüchtlingen aus der Ukraine die Gebühren. Ein Blumengeschäft verkauft Blumensträusse in den Farben der ukrainischen Flagge, der Erlös geht an ein Hilfswerk. Russinnen und Russen im Ausland solidarisieren sich mit der Ukraine und gehen dafür mutig auf die Strasse.
Im Schaufenster einer Freikirche las ich einen Aufruf zum Beten. Der Text war von der ukrainischen und russischen Flagge umrahmt, was anschaulich ausdrückt, dass auch die russischen Menschen nicht vergessen oder in globo diffamiert werden dürfen. Auch sie leiden und benötigen unsere Gebete. Universitäten rufen zum Respekt gegenüber russischen Studierenden und für eine friedliche Zusammenarbeit auf. Ein Kettenbrief ‚Beten hilft‘ lädt ein, zu einer vereinbarten Stunde das Tageswerk zu unterbrechen und für Frieden zu beten (für Deutschland, Österreich, Schweiz um 16.00 Uhr). Offenbar hat der Berater von Winston Churchill, Wellesley Tudor Pole schon im Zweiten Weltkrieg die Menschen aufgefordert, jede Nacht zu einer bestimmten Stunde zu beten.

Brauchen wir das Böse für das Gute?

Natürlich nicht! Doch im Angesicht des konkreten Schreckens scheinen Menschen eher geneigt, gute und kreative Kräfte frei zu setzen. Kriegsleid schüttelt Menschen durch, macht grosszügiger und hilfsbereiter. Doch sehr viele tun auch in friedvolleren Zeiten Gutes, in Verbundenheit mit dem ewig Guten. Der Urgrund der Welt ist immer anwesend. Gott ist untötbar. Er war da, als Menschen seinen Sohn ermordeten. Der Schrecken auf Golgotha mündete in die totale Verwandlung des Dunklen. Jesus ist auferstanden.
Mit dieser Hoffnung und mit unserem Mitgefühl, unserer Solidarität und unseren Gebeten können wir das ukrainische Volk im Geiste begleiten. Das Kriegsleid können wir den gebeutelten Menschen leider nicht abnehmen, das Böse von ihnen fernhalten schon gar nicht. Aber auf die Zusage von Paulus sollten wir vertrauen:

Wo aber die Sünde mächtig geworden ist, da ist doch die Gnade noch viel mächtiger geworden.
Römer 5, 20

Das hilft auch uns Fassungslosen, für welche das Leben normal weitergeht, in der Kraft zu bleiben.
Wir dürfen uns durch den Krieg nicht von Gott abschneiden lassen.
Wer kann, soll beten!
Für die Ukraine und für Russland.

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