Unerwünscht

In der Schweiz haben Nationalrätinnen aus den Reihen der Schweizerischen Volkspartei Ende 2021 Volksinitiativen für weniger Schwangerschaftsabbrüche lanciert, mit ein Grund für Laura de Weck, im Literaturclub vom 1.2.2022 Anni Ernauxs Buch »Das Ereignis« (2008) vorzustellen. Die Autorin beschreibt darin ihre traumatische Abtreibung im Jahre 1963, damals in Frankreich illegal. Als junge Frau musste sie Demütigungen, Verletzungen und Stigmatisierungen erleiden. Auch ohne Lektüre ihres Werkes kann ich mir einigermassen vorstellen, wie schmerzhaft und demütigend Anni Ernaux ihre Situation erlebt haben muss – als hilflose, junge Frau, die keinen anderen Weg gesehen hat.
Sie hätte es heute leichter. In vielen Ländern regelt der Staat den Abbruch einer Schwangerschaft. Viele sind darüber glücklich, andere entsetzt. Die Pro- und Kontraargumente sind hinreichend bekannt. Die eine Seite demonstriert hoch emotional für die Selbstbestimmung der Frau, die andere ebenso emotional für den Schutz des Ungeborenen. Das Thema bleibt explosiv.

Ich bin gegen Abtreibung. Die Vorstellung, wie sich das ungeborene Lebendige an die Wand der Gebärmutter zurückzieht, wenn es den Zug hin zum Absaugröhrchen spürt, bricht mir das Herz. Schlimm genug gibt es Notlagen, die einen solchen Entscheid erfordern, was vermutlich selten einfach ist. Wer hätte kein Verständnis für eine Frau, deren Schwangerschaft die Folge von roher Gewalt ist. Dass Menschen aufkeimendes Leben aber nicht mit allen Mitteln schützen, ist für mich hochproblematisch. Wenn ich im Internet saloppe Fragen zum Thema lese, etwa: ‘wie geht abtreiben?’, bin ich fassungslos. 

Selber war ich glücklicherweise nie ungewollt schwanger. Von Nahestehenden und aus Chats kenne ich die grossen und aufwühlenden Belastungen, die damit verbunden sind. Die Sorgen türmen sich zu Bergen. Das Leben droht aus den Fugen zu geraten, scheint verpfuscht. Nie würde ich Frauen verurteilen, welche in einer tiefen Lebenskrise keinen anderen Ausweg als den Abbruch der Schwangerschaft kennen. Traurig macht es mich.

Schwangerschaft bezeichnet einen Zeitraum. Ein Schwangerschaftsabbruch bedeutet aber noch etwas ganz anderes als den Abbruch einer zeitlichen Phase, es geht dabei unwiderruflich um den Abbruch von Leben. Die Beschönigung von schmerzhaften Tatsachen mittels bekömmlicher Worte erachte ich als manipulativ. Die sachlich distanzierte Sprache von Beratungs- und Informationsstellen über die Praxis des Schwangerschaftsabbruchs erweckt den Eindruck, als handle es sich bei einer unerwünschten Schwangerschaft um ein schieres Alltagsproblem. Die Haltung, ‘das Problem’ könne mittels eines technischen oder medikamentösen Eingriffs rasch und sauber in wenigen Schritten gelöst werden, geht mir an die Nieren. Klarheit, Transparenz und Sachlichkeit mögen bei Schwierigkeiten helfen. Wer würde sich in einer unerträglichen Dilemmasituation mit weitreichenden Folgen nicht rasch Erleichterung wünschen?  

Schwangerschaftsabbruch – (k)ein Fortschritt

In Bezug auf prekäre Notsituationen mag der geregelte Schwangerschaftsabbruch ein Fortschritt sein. Zustände wie zu Anni Ernauxs Zeiten, dass Frauen in der Krise einer ungewünschten Schwangerschaft allein gelassen oder schlecht behandelt werden, sind glücklicherweise überwunden. Dann kommt bei mir ein grosses Aber:
Es gibt bereits heute ein breites Netz an Unterstützungsangeboten für Frauen, die ihr Kind nicht begleiten können. Wieso greifen Betroffene und Beratende nicht mehr darauf zurück? Es könnte ausgebaut werden. Bei der Frage des Lebens eines Ungeborenen, welches zwar vielleicht noch kein Bewusstsein (welche Definition darf hier denn bitte gelten?), aber das volle Potential eines Menschen in sich trägt, dürfte nichts unversucht gelassen werden. Und:
Wieso schaffen so viele es offenbar nicht, das Wissen und die Methoden zur Verhütung von Leben in ihren Beziehungen zu berücksichtigen (Übergriffe sind hier nicht gemeint)? Wieso ist beim Sex (ich gönne ihn allen) die Sorge um ein allenfalls unerwünschtes Kind nicht mindestens so bedeutend, wie das Erlebnis der persönlichen Lust? Entziehen Frauen wie Männer sich im Wissen über die leicht mögliche Abtreibung nicht der Verantwortung für sich und das Leben?

Es geht um sehr viel. Ich frage mich:
Welche seelischen und körperlichen Langzeitschmerzen tragen (verhinderte) Eltern davon?
Wie prägt die Durchführung des Aborts das involvierte Gesundheitspersonal langfristig?  
Was sagt das technokratische Wegmachen von Leben im Bauch von ungewollt schwangeren Frauen über die Werte unserer Gesellschaft? Was massen wir uns an?

Manchmal frage ich mich, wie unsere Nachkommen darüber denken werden, anno 2092 etwa. Wird meine UrUr Enkelin den Partner meines Urenkels fragen:
»Warum haben die Menschen die Ungeborenen so kalt und distanziert behandelt. Wieso haben sie die kleinen Wesen nicht leben lassen? Wo sind die Seelen bloss hingegangen? Wieso konnten sie nicht bei ihren Mamas und Papas leben, oder so wie ich bei Paul und Leander bleiben?«
Ich wage nicht daran zu denken, wie man in 70 Jahren über unsere Kultur und Praxis der Abtreibung denken wird.
Mein Trost im Moment ist, dass jedes Wesen, welches auf der Erde seine Flügelchen nicht ausbreiten darf, den Rückweg in das Reich der Liebe finden und dort herzlich empfangen werden wird.

2 Kommentare

  1. Ein heikles Thema… ich bin auch gegen Abtreibung, aber bei gewissen Umständen auch dafür. Ich bin die Frau im Gesundheitswesen, die Frauen in diesem, ihrem schweren Weg ein Stück begleitet hat.
    Ohne meinen Glauben hätte ich so manche Situation nicht aushalten können.
    Oberstes Gebot war das Reden mit den Frauen. Sie einfach da abholen wo Sie in ihrem Leid stehen, Sie leiden alle….
    Es gab „Fälle“ die mit ihrem ungeborenen Kind wieder nach Hause gegangen sind. Nur ein Kind was leben durfte stärkte mich im Glauben, gab mir Kraft weiter zu kämpfen.

    Ich hoffe, das unsere Gesellschaft sich für ungewollte Kinder mehr Zeit zum reden mit den Eltern nimmt. Hoffnung beflügelt meine Seele auch beim Schreiben dieses Textes.

    Danke für den Beitrag

    1. Herzlichen Dank, liebe Lolle für den Kommentar zum Beitrag über ein heikles Thema. Hat mich sehr gefreut. Ja, hoffen wir auf viel Sorgfalt mit Müttern und ihren unerwünschten Ungeborenen, damit sich in Hoffnungslosigkeit neue Möglichkeiten für das Leben auftun. Danke, dass sie den Betroffenen beistehehen – viel Kraft.
      I.B.

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