
Maria und Jesus, Kloster Mehrerau, Flügelaltar
Kürzlich besuchte ich die Kirche des Klosters Mehrerau. Vor den Darstellung von Maria mit dem Jesuskind blieb ich lange sitzen. Mich berührte die mütterliche Ausstrahlung der jungen Gottesmutter.
Durch Mütterlichkeit konnte das Göttliche in die Welt kommen konnte, ging mir durch den Kopf. Vor sehr vielen Jahren, als ich spirituell heimatlos war, dachte ich beim Betrachten einer schlichten Darstellung von Maria mit dem Jesuskind in Prag ähnlich – und doch anders: Das Weibliche ist der Urgrund des Göttlichen. Das war für mich ein aufregender Gedanke: Nur mit den Kräften des Weiblichen ist Neues und Gutes möglich. Diese Einsicht wertete mein Dasein als Frau auf.
Vor dem Altar in Mehrerau hat mich Marias Mütterlichkeit angesprochen. Mütterlichkeit mag aus der Zeit gefallen klingen. Mütterliche Qualitäten aber sind heute dringend nötig: Fürsorglich sein; mitfühlen und mittragen; mutig sein; die Bedürfnisse des Egos hinter das Wohl anderer stellen; da sein und trösten, wenn das Leben leidvoll ist; nähren, was an Gutem werden will; in der Hetze Ruhe spenden; zuhören, wo man nicht helfen kann. Dafür steht Maria – die sich vom Göttlichen hat berühren lassen. Sie vertraute dem Engel. Maria hat nicht irgend ein neues Leben, sie hat das Göttliche in der Welt ermöglicht. Sie hat Jesus geboren, der uns neue Wege zu Gerechtigkeit, Frieden und zur Versöhnung aufzeigt.
Liege ich falsch mit der Annahme, dass die Geburt des Göttlichen ohne (Marias) Mütterlichkeit nicht denkbar ist? Und dass Mütterlichkeit eine göttliche Kraft ist, ein Ausdruck von Gottes Sein, ohne die Gott nicht denkbar ist?
Alle können mütterlich leben
Mutter sein bedeutet nicht, diese Aufgabe im oben geschilderten Sinne von Mütterlichkeit auszufüllen. Aber: Welche Mutter möchte nicht auf ihre Art mütterlich sein? Auch ich gab mein Bestes. Für den einen Sohn passte offensichtlich meine Mütterlichkeit nicht. Er hat den Kontakt abgebrochen. Inzwischen grüble ich nicht mehr darüber, ob ein Zusammenhang zwischen mangelnder oder falscher Mütterlichkeit bei mir und seinem Verschwinden besteht. Fragen kann ich ihn nicht. Ihm mütterlich begegnen auch nicht. Hingegen kann ich mich auch Menschen ausserhalb der eigenen Blutsband mütterlich zuwenden. Es gibt so viele Beziehungen, in denen Frauen und Männer und Menschen, die sich nicht im heterosexuellen Raster einordnen, sich mütterlich einbringen können.
Mütterliche Zuwendung bedeutet Vieles; Andere und Fremde verstehen wollen; zuhören, wenn Menschen an gesellschaftlichen Entwicklungen verzweifeln; die Umwelt schonen und sich an lebensfreundlichen Initiativen beteiligen; sich dem Hamsterrad von Mehr und Besser fernhalten und lebensfreundlichen Ziele anpeilen. Fürsorgliche Menschen entlasten in Stresssituationen, vermitteln im Streit, kochen Tee für Kranke, bleiben im Vertrauen, wo blanke Verzweiflung herrscht. Sie können schweigen und reden im richtigen Moment. In einem mütterlichen Lebensklima kann Neues gedacht und bewirkt werden kann.
Maria hat das Jesuskind geboren und mit ihm »den Weg, und die Wahrheit und das Leben« (Johannes, 14,6) in die Welt gebracht. Seine Verheissungen (beispielsweise in der Bergpredigt bei Lukas, 5, 1-11 sind wegweisend und wären lebbar. Grosse Würfe in Bezug auf ein wahrhaftiges und mütterliches Leben sind den meisten von uns nicht möglich. In unserem kleinen Umfeld aber können wir es versuchen, beispielsweise Schwächere verstehen, Verlorenen ein Stück Geborgenheit schenken, dem Nachbarn zulächeln.
Und: Wohlwollen von Älteren ist ein Nährboden für die Ideen und Aufgaben der Jungen. Ein liebevolles Wort für das freche (vielleicht bloss traurige) Kind ist Balsam für seine Seele.
Mütterlichkeit macht das Leben in unserer ver-rückten Welt nicht bloss erträglich, sondern sanft und schön.
Mütterlichkeit hat Wunder bewirkt und kann auch heute Wunder wirken.
Wir brauchen Wunder.

Maria und Jesus, Kloster Mehrerau