Über das Vermissen


Wer kennt nicht dieses Sehnen, wenn jemand für unser Glück oder unseren inneren Frieden fehlt – wenn eine geliebte Person sich entfernt hat, ein Ort des Wohlbefindens nicht mehr erreichbar ist, die alte Katze nicht mehr kommt. In meinem Falle vermisse ich, wie die Lesenden meines Blogs wissen, einen Sohn. Er hat die Beziehung zu mir abgebrochen. Die Funkstille dauert nun schon über vierzehn Jahre.

Nach einem Verlust, sei es durch Tod oder durch Verschwinden, bleiben Erinnerungen, die in der Gegenwart schmerzen, und denen wir als Folge unserer Grübeleien manchmal nicht mehr trauen. Die Unmöglichkeit eines Wiedersehens kann uns zu Gefangenen unserer Ohnmacht machen. Gefühle von Wertlosigkeit und Versagen kommen auf. Wir trauern um Verpasstes und nicht mehr Mögliches. Wir ersehnen neue Gelegenheiten um Verkehrtes richtig zu stellen. Der Schmerz des Vermissens wird zu einer Lebensrealität. Manche fühlen ihn auch noch nach vielen Jahren, besonders stark an Geburts-, und Festtagen oder an bestimmten Orten. Er kann einen urplötzlich überfallen, auf dem Fahrrad, oder in meinem Falle, wenn ich an einer Bäckerei vorbeispaziere, wo wir immer ein Stück Torte gegessen haben. Was hält eigentlich diesen seelischen, bisweilen auch physischen Schmerz am Leben?

Was wir vermissen

Mich betrübt, dass ich am Leben eines geliebten Menschen keinen Anteil habe, nichts mit ihm teilen kann. Wir haben weder eine gemeinsame Gegenwart noch eine gemeinsame Zukunft. Wenn ich daran denke, gehe ich meistens davon aus, dass wir den Geburtstag oder Weihnachten natürlich harmonisch und gemeinsam feiern würden. In einer Runde, in welcher über die Erfolge der Kinder berichtet wird, hätte ich selbstverständlich etwas Positives beizutragen. Wäre das so? Würde denn mein verlorener Sohn mir Enkelkinder bescheren? Wären unsere Kontakte so stressfrei wie in meinen Vorstellungen? Würde er mir aus seinem Leben erzählen, oder mich besuchen, wenn ich im Spital liege?
Meine Vorstellungen würden sich vermutlich nicht bewahrheiten. Unsere Zukunftsbilder von und mit den Kindern sind oft nicht mehr als unsere (Wunsch)Bilder. Das gilt auch für jene Kinder, mit denen wir im Kontakt sein dürfen. Situationen können sich rasch und unerwartet ändern. Wo sind die Eltern, deren Vorstellungen über das Leben ihrer Kinder und die Beziehung mit ihnen nicht mehrfach enttäuscht worden sind?
Wann immer uns ein tragischer Verlust trifft, wir werden nie wissen, wie das Leben mit dem verlorenen Menschen weitergegangen wäre. Wir wissen nicht, welche Herausforderungen auf uns zugekommen wären. Auch nicht welches Glück. Doch eines ist gewiss: Die Zukunft (also was wir vermissen) ist selten so, wie wir sie uns in unseren Phantasien vorstellen.
Gelegentlich frage ich mich, wie wohl die Begegnungen mit meinem Sohn verlaufen würden, wenn wir erneut Kontakt hätten. Dann gehe ich insgeheim davon aus, dass unsere Beziehung lockerer und offener wäre, als sie es war. Dass sich unsere Beziehung entwickelt hätte, ist ebenfalls eine Wunschvorstellung. Es könnte auch ganz anders sein. Ich weiss nicht, wie mein Sohn mir gegenübersteht. Vielleicht wären die negativen Gefühle und Einstellungen noch immer da, vielleicht aber würde er die Situation anders sehen. Ich weiss es nicht.

Nicht Phantasien vermissen

Mache dir keine Vorstellungen, sage ich mir. Ich möchte damit meinen verlorenen Sohn, und auch mich selbst von meinen Erwartungen befreien. Mir persönlich hilft es, wenn ich nicht in meinen Phantasien stecken bleibe und mich nicht in Tagträumen verliere. So laufe ich weniger in Gefahr, mich mit leeren Idealvorstellungen zu quälen.

Kürzlich hat mir eine Brieffreundin aus Deutschland geschrieben, wie schmerzhaft das Zusammentreffen mit ihrem Sohn nach einem mehrjährigen Kontaktabbruch war. Ihr sehnlichster Wunsch ist zwar in Erfüllung gegangen, doch die Begegnungen waren schwierig und führten zu erneuten Enttäuschungen. Sie habe ihren Sohn ein zweites Mal verloren, schrieb sie. Das tat mir so weh für sie – und für ihren Sohn.

Vermissen verändert sich

Selber merke ich, dass sich die Sehnsucht nach einem Wiedersehen mit meinem Sohn nach 14 Jahren Kontaktstille verändert hat. Natürlich denke ich täglich an ihn und bete für ihn. Wenn es sich ergibt, kann ich jetzt ohne Zittern von ihm erzählen. Immer mal wieder fühle ich die Sehnsucht im Herzen. Das hätte ich vermutlich auch, wenn wir im Kontakt sein könnten. Weil ich ihn möglicherweise nie wirklich erreichen könnte.
Der radikale Kontaktabbruch bleibt für mich etwas Verkehrtes, welches ausserhalb wie innerhalb von mir selbst und ganz sicher nicht in meinen Händen liegt. Das Vermissen hingegen hat sich verändert. Manchmal stelle ich sogar fest, dass ich nichts vermisse. Dann bin ich ein bisschen verwundert. Der Verlust meines Sohnes hat heute eher die Qualität eines Faktums des Unerklärlichen im Leben angenommen, von etwas Verstörendem. Er ist Ausdruck von etwas nicht Fassbarem. In ihm manifestiert sich jetzt eher ein nicht greifbarer Urschmerz als ein persönliches Leid.

Und doch, wie schön wäre es, wenn mein Sohn wieder einmal in meinem Gärtchen neben mir auf einer Bank sitzen würde, vielleicht schweigend, vielleicht redend ohne Ende…, wenn aus den Trümmern heraus etwas Neues gedeihen könnte. Das wäre ein wunderbares Geschenk.