
Vor einigen Tagen berichtete mir Frau R. über den Tod ihres Mannes nach langer Krebskrankheit. Die Tochter hat vor Jahren den Kontakt zu den Eltern abgebrochen. Sie wusste seit Monaten, dass ihr Vater todkrank ist. Fünf Tage vor dem Tod hat sie ihn besucht. Der Sterbende war bereits nicht mehr ansprechbar. Auf der Todesanzeige wollte die Tochter nicht erwähnt werden. An der Beerdigung hat sie nicht teilgenommen.
«Was denken, resp. fühlen unsere Kinder?», fragt sich die Mutter ob dem, für sie unbegreiflichen Verhalten. Sie schreibt: (…) «ich habe keinerlei Hoffnung mehr und will mir auch keine Falsche mehr machen. Es tut immer noch weh und wird es immer tun, aber ich will nicht mehr verzweifeln.»
Ich fand ihre Worte bemerkenswert. Frau R. hat die Hoffnung auf ein Wiedersehen mit ihrer Tochter aufgegeben, an der Enttäuschung will sie nicht länger verzagen. Ihr Wille zu einem neuen Leben hat mich beeindruckt.
Eltern, die ihre Kinder nicht sehen können, empfinden oft eine Leere. Das Kind und manchmal auch die Enkel fehlen. Was dem Leben Sinn gegeben hat, ist weggebrochen. Wenn das Wichtigste im Leben verloren geht, kann die Traurigkeit unendlich sein. Davon berichten viele verstossene Eltern und fühlen sich, oft jahrelang, in einem negativen Gefühlsnetz von Scham, Angst, Wut, Schuld und Enttäuschung gefangen. In besonderen Situationen, wie dem Tod eines Familienangehörigen reissen die Wunden erneut auf. Man hofft auf eine Enteisung der Verstarrung – und ist wieder sehr enttäuscht. Ein unbewältigter Kontaktabbruch tut erneut besonders weh. Das hat Frau R. erfahren.
Sinn finden statt verzweifeln
Søren Kierkegaard beschreibt Verzweiflung als Mangel an Sinn und Herausforderung, Jean-Paul Sartre als Unfähigkeit, sich weiterzuentwickeln. Viktor Frankl sieht unsägliches Leiden und Bedeutungsverlust als Ursachen menschlicher Verzweiflung. Der Begründer der Logotherapie hat mehrere Konzentrationslager nicht nur überlebt, sondern ist am Leiden über sich selbst hinausgewachsen. Durch sein Leben und in seinen Büchern hat er gezeigt, dass schweres Leid nicht in Verzweiflung enden muss. [1]
Dalai Lama meint: «Wenn die Hoffnungslosigkeit uns zu überspannen droht, müssen wir uns besonders anstrengen.» Können wir den negativen Folgen von Hoffnungslosigkeit wirklich willentlich entkommen? Durch besondere Anstrengungen? Und wie geht das, in tiefer Verzweiflung neue Hoffnung schöpfen und die Lebenskräfte erneuern? Das würden wohl nicht bloss verlassene Eltern gerne wissen, sondern all die Menschen, die ob der schwierigen Lage in der Welt nicht mehr hoffen können.
Persönlich kenne ich diese bodenlose Traurigkeit über die Tatsache, dass sich das eigene Kind auf und davon gemacht hat sehr gut. Ich habe erfahren, dass die negativen Gefühle sich nicht wie die Sämchen eines verblühten Löwenzahns wegpusten und die selbstkritischen Gedanken sich nicht mit einem Gummi aus unseren Gehirnwindungen wegradieren lassen. Der seelische Schmerz heilt langsam, lässt sich nicht wie ein Flecken auf dem Teppich weg machen. Die Zeit hat ihn gelindert. Inzwischen kann ich Schönes und Gutes wieder mit neuer Intensität wahrnehmen, weil ich erfahren habe, dass nichts selbstverständlich ist. Geholfen hat mir der Glaube an Gott, an das ewige Licht, welches jede düstere Erdenschwere durchdringt. Das will ich glauben, dass ich es glauben darf, ist reine Gnade.
Die Sinnfindung ist aber auch eine Aufgabe, an welcher wir arbeiten können und sollten. Sie hat nicht nur mit persönlichen Schicksalsschlägen zu tun, sondern stellt sich in jedem Leben von Zeit zu Zeit neu. Persönliche Herausforderungen schreien aber geradezu danach, den eignenen Platz in der Welt wieder neu zu definieren, die Liebeskräfte neu auszurichten, unbekannte Seelenkräfte zu entfalten.
Es gibt so viele Menschen, nicht nur die Blutsverwandten, die unserer Aufmerksamkeit bedürfen und beschenkt werden möchten. Und: Wer etwas für einen Anderen oder eine Andere tun darf, tut damit ganz viel für sich selbst. Das Leben erhält so Sinn.
[1] https://gedankenwelt.de/wie-koennen-wir-mit-verzweiflung-und-depressionen-umgehen/ (gelesen am 13.6.2022)