Enttäuscht

Eine Tochter wendet sich von den Eltern ab. Ein Sohn bricht die Ausbildung ab. Eine Tochter trägt freiwillig das Kopftuch. Ein Sohn hat seiner Mutter Hilfe beim Umzug zugesagt und fliegt stattdessen nach Thailand.

Wir reagieren mit Vorwürfen an die Kinder oder an uns selbst:
«Ich habe dir immer geholfen. Wenn ich Hilfe benötige, bist du nicht da!»
«Was habe ich bloss falsch gemacht?»

Wir hinterfragen unsere Erwartungen:
«Bin ich naiv, wenn ich den Kontakt zum eigenen Kind als selbstverständlich ansehe?
«Habe ich unrealistische Erwartungen?»

Wir fallen in die Opferrolle:
«Habe ich das verdient?»

Wir werden wütend:
«Ich werde dich enterben!»

Wir fühlen uns hilflos:
«Wie nur könnte ich die Situation retten?»

Enttäuschung – Ende einer Täuschung?

Ist wirklich jede Enttäuschung auch das Ende einer Täuschung, und insofern positiv, wie oft gesagt und geschrieben wird? Dem möchte ich im Falle des Kontaktabbruchs meines Sohnes nicht ohne weiteres zustimmen. Intensive Erlebnisse mit dem Kind, gegenseitige Zuneigung, das war echtes Leben. Das alles war keine Täuschung. Getäuscht habe ich mich in der Annahme, dass die Beziehung zu meinem Kind dauerhaft bleibt.

Enttäuschung als Folge einer unerfüllten expliziten Zusage erschüttert in erster Linie das Vertrauen in Menschen. Enttäuschte implizite Erwartungen fordern uns zusätzlich heraus, unsere Vorstellungen von Menschen zu hinterfragen – von Beziehungen – vom Lauf des Lebens überhaupt.
Nicht eingehaltene Abmachungen lassen sich in vielen Fällen besprechen. Mit der Zeit wächst Gras über die Frustration. Was aber, wenn sich ein Mensch definitiv abgewendet hat, wenn jegliche Kommunikation verunmöglicht ist? In solchen Situationen müssen beide Seiten einen eigenen Umgang damit finden.

Wer mein Buch ‘mother is deleted – aus dem Leben verbannt’ gelesen hat, weiss, wie sehr der Verlust meines Sohnes mein Vertrauen in das Leben erschüttert hat. Der bittere Schmerz hat inzwischen nachgelassen, Wehmut ist geblieben. Wenn mich ein Foto von ihm an schöne Erlebnisse erinnert, frage ich mich, warum diese für ihn offenbar wertlos geworden sind. Mit welchen Enttäuschungen lebt er? Mein Bedauern gilt auch ihm, der sich, aus mir unbekannten Gründen für ein Leben ohne seine Mutter entschieden hat. – Eine Kommunikation darüber scheint unmöglich. Man kann auch ohne Antworten leben.

Das Positive im Negativen

Der Kontaktabbruch eines Kindes ist eine grosse und bleibende Enttäuschung für Eltern. Auch ich ging davon aus, dass die Beziehung zu den Kindern sich zwar wandelt, aber, wie oben erwähnt, bestehen bleibt. Ich verstehe alle Eltern, die über die Unmöglichkeit trauern, eine Beziehung zu ihren Kindern leben zu dürfen. Ich bedaure, dass Kinder nur eine Möglichkeit für ein gutes Leben sehen: Beziehungsabbruch. Dem kann ich aus meiner Sicht nichts Positives abgewinnen.

Die Enttäuschung über den Verlust meines geliebten, verlorenen Sohns hat aber eine neue Tiefe in mein Leben gebracht. Sie lässt mich erfahren, dass das Ende einer Täuschung zwar sehr bitter ist, aber auch eine neue Lebensqualität schenken kann.

Ein gutes Leben wird oft mit der Abwesenheit von Leid oder Verlust gleichgesetzt. Bezüglich dieser Annahme wurden mir in einem konstruktiven Sinne die Augen geöffnet. Manchmal denke ich, dass eine schmerzhafte Erfahrung jede Freude, Hoffnung und Liebe im Leben besonders gross und wertvoll erscheinen lässt.
Das ist das Positive im Negativen.