Hass in Liebe wandeln

Der grosse Mystiker Meister Eckhart sagt,
»… dass es Gott und seiner Liebe unmöglich ist, zuzulassen, dass dem Menschen ein Leid oder ein Leiden zustosse, es sei denn, er wolle dem Menschen viel grösseres Leid dadurch verhüten … .«

Auf dem Hintergrund grosser Ungerechtigkeiten ist diese Tröstung mehr als herausfordernd. Ist sie im Angesicht der Toten von Myanmar oder der Kriminalität in Venezuela nicht geradezu zynisch? Welch schlimmeres Leid sollte mit Mord, Gewalt, Kriminalität, Armut, Korruption denn noch verhindert werden? Der grosse Mystiker hat aber bestimmt nicht ins Blaue hineingeredet. Ich Zweiflerin kann vermutlich weder gross genug denken, noch weit genug sehen, noch tief genug vertrauen, kann nur bescheiden fragen.

Was könnte Gott einer Familie durch den Verlust eines Familienvaters ersparen wollen? Vor was behütet er die Eltern, deren Kinder die Beziehung abbrechen? Konkrete Antworten lassen sich auf den ersten Blick nicht finden.

Manchmal macht mir der Hass meines Sohnes Angst. So oft habe ich mich gefragt, woher  seine Wut kommt. Da war ja viel Liebe, Verständnis, Streben nach Gerechtigkeit, Wertschätzung. Wir wissen es: Verletzung, Unrecht, Lieblosigkeit, Beschämung, Ungerechtigkeit erzeugt Hass und das über Generationen. Was auch immer Ursachen für die  Wut meines Sohnes sein mögen, sein Kontaktabbruch fungiert vielleicht als Ventil. Dann denke ich, dass andere (hoffentlich) verschont bleiben, wenn er seine Wut auf mich richtet. Vielleicht kann dadurch tatsächlich Schlimmeres verhindert werden. Indem ich die Wut nicht zurückgebe, mögliche Ursachen zu verstehen versuche, der Ablehnung Liebe entgegensetze, keine Sündenböcke für den Verlust bezeichne, kann sich die negative Kraft nicht weiter ausbreiten, so hoffe ich. Meinen Sohn werde ich immer lieben, die Traurigkeit über den Verlust aushalten. Ich versuche, niemanden, möglichst auch mich nicht für diese, für die ganze Familie leidvolle Situation zu beschuldigen. In meinen Gebeten bitte ich um Verwandlung von Hass in Liebe.

Trauer ist Teil des Lebens. Wut auch. Ich bleibe im Glauben, dass sich das Dunkel in uns – und das um uns herum – wandeln wird, wenn wir uns von der ewigen Liebe anziehen lassen, in der auch Martin Luther King gelebt haben muss, als er seinen Zuhörern und Zuhörerinnen zurief, dass sie (Weisse) uns (Schwarze) anspucken und hassen, sie uns die Liebe aber nicht nehmen können.
»Ich habe beschlossen, bei der Liebe zu bleiben … Hass ist eine zu große Last, um sie zu tragen.«
Martin Luther King