»Alles gut.« So steht es am Schluss von Helga Schuberts autobiographischem Buch Vom Aufstehen. 29 Geschichten schenken einen Einblick in das bewegte Leben der Achtzigjährigen, in welchem vieles – gelinde gesagt – sehr herausfordernd war. Die Autorin hat Frieden geschlossen mit ihrer Biographie, scheint mir. Ist es die Kraft der Vergebung? Ich freue mich sehr für sie und ziehe den Hut vor ihr. Gerne hätte ich noch mehr über sie gelesen.
Am heutigen Ferientag ist für mich auch alles gut. Im Traum sass mein verlorener Sohn bei mir und malte. Er wirkte zufrieden, ich war es auch, meine Sehnsucht beim Erwachen sanft. Die Morgenübungen bescherten eine angenehme Lebendigkeit, das stille Sitzen innere Ruhe. Unter der Dusche spürte ich grosse Dankbarkeit über das warme Wasser, das duftende Weleda Duschgel mit Wildrosenduft, die Rosssalbe für schmerzende Stellen.
Draussen war es sehr kalt an diesem Frühlingstag im Mai. Meine Bleibe ist geheizt. Anregende Gespräche mit meinem Liebsten über den Standpunkt von Rechtsprofessor Müller zur Notwendigkeit des Dialogs in einer Demokratie, ein einfaches, schmackhaftes Essen, ein Spaziergang im Regen, all das macht den Tag zu einem guten Tag.
Nichts davon ist selbstverständlich. Im Alltag verhalten wir uns aber oft so, als wäre unser Wohlstand natürlich, als stünden all die Annehmlichkeiten uns zu, als hätten wir sie uns verdient. Es könnte ganz anders sein. Wir könnten in Jemen leben, frieren, hungern, ohne Perspektive, oder in Indien mangels Sauerstoffs an Corona sterben. Dort, oder auch in Brasilien ist das Leben gerade für sehr viele Menschen sehr schlecht.
Wir hingegen erleben Tag für Tag Gutes. Die Älteren werden vor den Jungen geimpft, obwohl auch viele junge Menschen äusserst vulnerabel sind. Geht es schlecht, erhalten wir Hilfe. Viele haben auch in der Pandemie genügend Kapazitäten, einander zu helfen.
Hier ist sehr vieles sehr gut. Nicht alles läuft auf Anhieb nach Wunsch. Doch Fehler werden gesehen, Verkehrtes wird geradegerückt, was schlecht läuft optimiert.
Halten wir uns mit unserer Besserwisserei zurück. Lassen wir uns den Blick für das Gute schenken und der Tag wird voll davon sein. Die Amseln singen auch im Regen und die roten Tulpen leuchten an einem grauen Tag besondere intensiv.
Vieles ist gut, auch wenn einiges schlecht ist, vor allem die Ungerechtigkeit. Diese kann es einem schwer machen, sich an all dem Guten zu freuen. Vieles können wir nicht verändern, aber wir können an jedem Tag aus dem Guten heraus einen guten Tag gestalten.
Bitte an einem guten Tag
Mein Gott, du ewige Güte,
heute ist alles gut.
Wunschlos zufrieden bin ich
und verwundert.
Habe ich tatsächlich das goldene Los gezogen?
Unser Gott, du ewige Güte,
heute ist es schlecht
für hunderttausende von Menschen
die leiden und
als Verlierer keine Zukunft sehen.
Du Gott für Alle,
das Gute gehört uns nicht.
Wir wollen es teilen.
Sei unser Kompass für Gerechtigkeit.
Ohne deine Güte geht es nicht.
Amen
Literatur:
Helga Schubert (2021): Vom Aufstehen. Ein Leben in Geschichten. München: dtv.
Jörg Paul Müller (2021): Demokratie wird nicht mit den Genen vererbt wie die Aristokratie. Interview von Bernhard Ott. In: Der Bund. 1.5.2021, 172. Jahrgang, Nr. 100.