Nichts und niemand ist perfekt


Ein Kind bricht den Kontakt ab, auch wenn die Eltern vieles gut gemacht haben. Ein anderes hält ihn aufrecht, obwohl die Eltern vieles falsch gemacht haben. Warum? Im komplexen Kosmos Familie bleibt vieles unerklärlich, auch warum Kinder ihre Eltern entwerten.
Wolfgang Schmidbauers Gedanken[1] zum Thema zeugen von viel Verständnis für das Drama des Kontaktabbruchs.

Dämonisierte Eltern

Kinder, die ihre Eltern abwerten und verlassen, bekommen heute viel Aufmerksamkeit, während die zurückgestossenen Eltern still vor sich hin leiden. Die Dämonisierung der Eltern sei geradezu ein Massensport, stellt Schmidbauer fest (S. 36). Die Anklagen reichen von mangelnder Liebe, über fehlendes Verständnis bis zum Vorwurf, Eltern würden das Kind für die Erfüllung eigener Wünsche benutzen (was ich nicht hatte, sollst du haben, was ich nicht werden konnte, sollst du werden). Die negativen Gefühle und Erinnerungen mancher Kinder sind so stark, dass sie ein Leben ohne Kontakt mit den Eltern wählen. Hinter einer hartnäckigen Entwertung kann sich der Wunsch nach besseren Eltern verstecken und die Phantasie, mit anderen Eltern hätte man ein besseres Leben (S. 71).


Eltern als Sündenbock

Hier ist nicht die Rede von Kindern, welche gravierende psychische und physische Gewalt in der Familie erfahren haben. Es geht um Kinder, die in mehr oder weniger normalen Familien aufgewachsen sind und möglicherweise von den Schwierigkeiten des Lebens überrollt werden. Den Grund für ihre Probleme orten sie bei den bösen Eltern, die sie nicht richtig auf das Leben vorbereitet haben. Zu finden gibt es immer etwas, denn keine Eltern sind perfekt.
Psychologische Konzepte thematisieren den Zusammenhang zwischen erlebter Zuwendung als Kind und dem Lebensgefühl als Erwachsene/r. Es leuchtet ein, dass Kinder, welche stabile Bindungen und unbekümmerte Zuwendung erfahren dürfen, viel innere Sicherheit aufbauen können. Schmidbauer stellt aber die These in Frage, dass Verletzungen im Kindesalter zu dauerhaften Problemen im Erwachsenenalter führen müssen. Er argumentiert, dass Menschen auch bei geringer Zuwendung und mangelnder Anerkennung in der Kindheit zu lebenstüchtigen, in der Familie verankerten Erwachsenen heranwachsen können (S. 54).
Eindimensionale Erklärungen für Schwierigkeiten in Eltern-Kind-Beziehungen fördern vor allem Schuld- und Schamgefühle auf beiden Seiten.


Schuldzuschreibungen – eine verpasste Chance?

Das Leben hält viel Unerwartetes bereit, auch Enttäuschungen und Misserfolg. Man schämt sich vor sich selbst – und findet die Ursachen für das Scheitern in der Vergangenheit, bei den Eltern, die man notabene nicht enttäuschen wollte. »Was wir erinnern, steht für unsere Gegenwart und schöpft Beweise aus dem Brunnen der Vergangenheit«, schreibt Schmidbauer (S. 44). Für den Umgang mit vertrauten Menschen wäre es hilfreicher, einander aufgrund aktueller Erfahrungen zu beurteilen. Das erfordert allerdings eine grosse Portion an (Selbst)Reflexionsfähigkeit.
Die Entwertung der Eltern kann vor Frustrationen über Misserfolg und Mittelmässigkeit schützen. Ein Sündenbock mag von inneren Spannungen zu befreien. Langfristig kann die endlose Anklage der Eltern die seelische Abhängigkeit von ihnen zementieren. Die Täter-Opfer-Dynamik hemmt die persönliche Entwicklung. Bleibt das erwachsene Kind darin stecken, verpasst es, die Verantwortung für sein Leben zu übernehmen. Eine Verweigerung von Kontakt verunmöglicht eine Klärung von Kränkungen in der Vergangenheit. Im Schweigen kann sich kein neues gegenseitiges Verständnis entwickeln. Wo Mauern sind, kann ein Sorry Verhärtetes nicht aufweichen. Die negativen Gefühle bleiben zerstörerisch, die Liebe bleibt verschüttet. Eine Entwicklung der Beziehung zwischen Eltern und Kindern ist nicht möglich. Das ist so elend traurig.


Eltern-Kind-Beziehungen entidealisieren

Hohe Erwartungen an Geborgenheit in der Familie führt zu deren Idealisierung. Wo Schwächen verleugnet werden, ist die Überforderung nicht weit. In allen Familien gibt es Schwierigkeiten, in manchen sehr grosse (Migration, Krankheit, Sucht, Armut, Scheidung, Tod). Alle Eltern machen grössere und kleinere Fehler und sind (phasenweise) zu sehr mit sich selbst beschäftigt. Manche haben selber nie Empathie erfahren, leiden an einem Trauma oder stehen unsicher im Leben. Alle wollen für ihren Nachwuchs das Beste, alle werden schuldig an ihren Kindern.
Persönliches Unvermögen oder ein Unglück können das Ideal von romantischen Beziehungen wie eine Dampfwalze niederrollen. Je höher die Ideale, desto grösser die Enttäuschung. Sicher ist: Grund zur Kritik gibt es in jeder Familie und sicher ist auch, dass Vergangenes nicht mehr zu ändern ist.

Andauernde destruktive Kritik am Umgang mit Schwierigkeiten in der eigenen Familie könne entmutigen, meint Schmidbauer. »Konstruktiver wäre es, die Leistungen einer Familie zu würdigen, in der alle trotz ihrer Schwierigkeiten versucht haben, miteinander durchzuhalten« (S. 66). Die Einsicht, dass man vieles gut gemacht hat, auch wenn nicht alles perfekt war, führt weiter. Sie befähigt Menschen, weniger Perfektionsansprüche an sich und andere zu stellen. Das wäre hilfreich für alle Beziehungen.

Kinder und Jugendliche idealisieren ihre Eltern. Werden sie erwachsen, stellen sie fest, dass sie ihnen in manchem überlegen sind. Es sei ein grosser Reifungsschritt, wenn Kinder die Eltern deswegen nicht abwerten, meint Schmidbauer. Zum Erwachsen werden gehöre es, die Eltern realistisch zu sehen. Glück hat, wer von den Kindern als Mensch mit Stärken und Schwächen akzeptiert wird – und geliebt. Wenn Kinder erkennen, dass ihre Eltern auch einen Rucksack von Trauma und Kränkungen tragen, kann mit der Zeit eine liebevolle Beziehung auf Augenhöhe entstehen.  


Nichts und niemand ist perfekt

Erziehung, die keinen Schaden anrichtet, sei nicht zu haben, stellt Schmidbauer fest (S. 164). Wer mit dem Kontaktabbruch eines Kindes leben muss, bekommt die Verletzlichkeit von familiären Beziehungen und die Unerreichbarkeit von Idealen besonders drastisch vor Augen geführt. Wie kann man mit einer solchen Enttäuschung leben?
Man könnte Enttäuschungen als zum Leben zugehörig betrachten,schlägt Schmidbauer vor, als normale Prozesse sozusagen (S. 166). Er plädiert für die Akzeptanz von Fehlern vor Idealisierung, für Verzeihen vor Verurteilen, für Geduld vor Beziehungsabbruch, für Gnade vor Recht.
Das braucht Zeit, Reife und die Akzeptanz von Unterschieden. Kinder dürfen anders sein als die Eltern, Eltern anders als die Kinder. Kinder sind nicht das Eigentum von Eltern, Eltern nicht das Eigentum von Kindern. So wenig sich Eltern ihre Kinder nach ihren Vorstellungen schaffen können, so wenig können Kinder sich ihre Eltern nach ihren Idealen bilden.
 »In den glücklichen Familien erfüllen Kinder nicht die Erwartungen der Eltern (und umgekehrt), sondern jeder freut sich am Leben des jeweils andern und reagiert nicht mit Schuldgefühlen, sondern empathisch, wenn es Probleme gibt« (S. 53).
Das ist ein neues Ideal, gewiss. Ist es auch erreichbar? Wer Fehler machen darf, Schwächen (und Stärken) haben darf, Gefühle annehmen kann und nicht perfekt sein muss, kommt ihm näher. Dann wird es möglich, Vergangenes ruhen zu lassen, sich aneinander zu freuen und gemeinsam den Augenblick zu geniessen.


[1] Wolfgang Schmidbauer (2024): Böse Väter, kalte Mütter? Warum sich Kinder schlechte Eltern schaffen. Stuttgart: RECLAM.