Das empfahl mir eine Freundin nach der Lektüre des Buches »mother is deleted«. »Lass ihn los!«, sagen andere, wenn mich nach zehn Jahren Kontaktabbruch noch immer beschäftigt, wie es so weit kommen konnte. Lässt eine Mutter zu wenig los – oder ist sie gar übergriffig – wenn sie über das Leben des verlorenen Kindes nachdenkt und ihm Gutes wünscht?
Ja, was ist denn eigentlich »Loslassen«?
Facetten von Loslassen
Als meine Söhne in der Schule nicht sooo interessiert lernten, wie ich es mir gewünscht hätte, musste ich meine pädagogischen Ideale loslassen. Auch extrinsische Motivation führt zum Ziel, erfuhr ich. Mit der beruflichen Ausrichtung setzten sie sich die Jungs vom Milieu der Familie ab. »Kinder müssen nicht die Ideale von Eltern übernehmen,« freute ich mich und sah mich als Mutter, die loslassen kann. Mit dem schweren Suizidversuch des Jüngeren fing das Loslassen erst richtig an. Ich erkannte, dass ich ihm sein Leben nur überlassen kann und übte mich in dieser Haltung. Meine schreckliche Angst beim Gedanken an einen möglichen Verlust führte mir dabei immer wieder schmerzlich vor Augen, wie sehr ich an ihm hänge – und wie schwierig loslassen ist.
Und nun hat er seine Mutter radikal losgelassen. Er meidet den Kontakt und verneint die Tatsache einer verwandtschaftlichen Bindung. Totales Loslassen?
Und ich? Noch immer kommen mir beim Gedanken, dass ich ihn verloren habe die Tränen. Sprechen über ihn wühlt mich noch immer auf. Ich denke noch immer an meinen verlorenen Sohn und bestärke mich in der Hoffnung, dass Heilung möglich ist – und male mir aus, dass er ein authentisches Leben hat, dass er in Gott geborgen ist – und bete für ihn.
Wenn loslassen eines geliebten Menschen verzeihen heisst, sich mit der Lücke ganz fühlen, sich über Gutes freuen, nicht an eigenen Lebensentwürfen hängen, sich vor dem Schmerz nicht fürchten, der Liebe Platz machen, dann habe ich ein gutes Stück losgelassen, denke ich.
Loslassen in der Tiefe
Der Ratschlag: »Lass los» – sicher gut gemeint – hinterlässt bei mir regelmässig einen schalen Nachgeschmack, als hätte ich meine Hausaufgabe noch immer nicht zufriedenstellend erledigt. Inzwischen gestehe ich mir ein, dass ich in »Loslassen« nicht begabt bin. Es geht zögerlich voran. Und doch: Das Vertrauen in den Fluss des Lebens wird grösser, Vorstellungen über Familienfeiern an Weihnachten verändern sich, die Schwere verflüchtigt sich.
Bei der Geburt trennt die Hebamme die Nabelschnur zwischen Mutter und Kind ein für alle Mal. In der Tiefe bleiben Mutter und Kind verbunden, auch später, wenn davon weniger sichtbar ist und die Wege sich längst getrennt haben. Wunderbar ist es, wenn Eltern sich über die eingeschlagene Richtung freuen können. Die eigenen Kinder können einem aber auch fremd werden. Darüber kann man sehr erschrecken. Doch auch ein erschrockenes Herz wird Ruhe finden, wie Augustinus schreibt: »Unruhig ist unser Herz, bis es ruht in dir«.
Bis es aber einmal soweit ist, haben wir einige persönliche Aufgaben zu bewältigen; Loslassen von geliebten Menschen – auch Loslassen von uns selbst, beispielsweise. Und wenn wir wieder ein bisschen mehr losgelassen haben, oder es meinen, stellen wir fest, wie sehr wir immer noch verbunden sind, auch wenn an der Oberfläche nichts davon sichtbar ist. Es ist die Lebenssituation vieler Menschen, getrennt von lieben Menschen mit ihnen verbunden zu sein. Bleiben wir verbunden in der Liebe und im Schmerz gelassen – und lassen wir eher uns selbst mehr los.
Iba