Mit siebzig II  –  dem Fremden zugewandt



Kim de l’Horizon ist ein Senkrechtstarter. Jedenfalls im deutschen Sprachraum. Sein Erstlingswerk hat renommierte Preise gewonnen. Die einen schwärmen von Kunst, andere von einer neuen Sprache, es gibt auch welche, die das Buch nach zehn Seiten weglegen oder gar nicht anfassen.
Ich wollte wissen, welche Literatur heute bei Experten und Expertinnen leuchtende Augen zu erzeugen vermag, war neugierig auf die vielgelobte neue Sprache und liess Blutbuch in der Bibliothek reservieren. Ich wollte verstehen, was ich nicht kenne. Mich interessierte, ob genderfluide Menschen andere Prozesse durchleben als jene, die ihr Geschlecht eindeutig empfinden.

Das Buch zeigt die schwierige Phase der Identitätsfindung eines Menschen, der sich besonders bezüglich seiner sexuellen Identität als anders empfindet. Ein herausforderndes Lebensthema! Ich nehme dem Autor ab, dass es schwierig war, in seiner Welt, die er als ausgrenzend erfahren hat, sich selbst zu werden. Dass er die Schuldigen für seine Probleme in der Familie und Gesellschaft findet, passt zur Lebensphase, dass er sich als Zentrum der Welt wahrnimmt ebenso. Bei allem Verstehen wollen wurde es mir bald zu viel Ich. Die Sprachmächtigkeit des Autors beeindruckte mich zwar, doch die Sprache sagte mir nicht zu. Das Buch erzeugt Wirkung, bei mir auch Widerwillen, wenn ich ehrlich bin. Nur weil der Autor jung ist, sehe ich ihm nach, dass er seine Grossmutter geopfert hat. Aber ich danke ihm, dass er mir etwas mir Fremdes weniger fremd gemacht hat. Und ich wünsche ihm, dass er irgendwann realisiert, wie weich er mit seinen Erfahrungen gebettet war. Er konnte sich sehr viel Zeit nehmen, um seine Singularität zu erkunden.

Kim de l’Horizon scheint gefragt zu sein. Nicht alle mögen hinsehen, wenn er unter seinem durchsichtigen rosafarbenen Kleid die Unterhose der Marke Calvin Klein trägt, andere beklatschen seine unkonventionelle Erscheinung. Seine Person, Texte, Auftritte ernten emotionsgeladenes Lob oder Kritik und rufen eine Reihe von Kim Verstehern und Kim Kritiker auf den Plan. Der Shootingstar der Literatur polarisiert.  

Befremdet

Die Kolumne Für unsere Bergwerdung für Tamedia (21.3.23) hat mich befremdet.

»Anfang März, Kotzwetter. Ich begebe meinen Körper in ein Innerschweizer Skigebiet. Schnee? Ne. Als stünde ich am Strand, und wer hat das Meer geklaut. Alle Bahnen zu (…)«.
»Wir fätzen auf kanonisiert gefrorenem Wasser runter und schreiben unseren friends DIE NATUR TUT SO GUT.«

Auch wenn die Sätze für mich Zug, etwas Frisches, Freches, zynischen Witz haben, sträubt meine Seele sich gegen das WIR, gegen Körper, die sich irgendwohin begeben, gegen Kotzwetter und die Vermischung verschiedener Sprachen, gegen verkappte Überheblichkeit und Alleswisserei. Ich haben etwas dagegen, wenn Menschen andere herbeipfeifen und von Kindern als von Gofen sprechen. Vorläufig lasse ich Kim de l’Horizon sein.
  
Allen nonbinären Menschen wünsche ich einen beschützenden Engel und ein wenig Verständnis dafür, dass sie manchen Menschen (noch) fremd sind.

21.3.23