Um einen lebenden Verlust trauern


»Trauern heisst akzeptieren, dass eine Person gestorben ist. Und zugleich erkennen, dass unsere Beziehung zu dieser Person nie sterben wird«,
sagt Julia Samuel im Interview mit Mikael Krogerus (In: Das Magazin Nr. 21, 2023, S.10). Die englische Psychotherapeutin mit dem Spezialgebiet Trauerverarbeitung weiss, wie man mit Trauer leben kann. Ihre Gedanken sind auch für den Verlust eines Kindes durch Kontaktabbruch hilfreich.

Lebender Verlust

Die Gefühle nach dem Verlust einer Freundschaft, einer Arbeit oder der Heimat sind gemäss der Trauerexpertin Samuel ähnlich wie die Trauer nach dem Tod eines geliebten Menschen. Sie spricht dann von einem »lebenden Verlust«. Das gilt auch für Menschen, in deren Leben etwas nicht möglich war oder die etwas nicht erleben konnten (z.B. Schwangerschaft). Sie trauern um etwas, das nicht möglich war.
Wie verlassene Eltern erfahren, stürzt einen der Kontaktabbruch durch ein Kind in eine tiefe Trauer. Der Austausch mit dem Kind bleibt uns verwehrt. Am Leben des eigenen Kindes können wir nicht mehr teilnehmen. Ein solcher lebender Verlust im wahrsten Sinne des Wortes zerstört die Gewissheit, dass man als Eltern mit dem eigenen Kinde lebenslang verbunden bleibt. Er verstört eine gängige Vorstellung über die Beziehung zwischen Kind und Eltern.
Auch uns verlassenen Eltern kann der Ratschlag der Trauerexpertin helfen: Akzeptieren, dass das eigene Kind den Kontakt verweigert und erkennen, dass unsere Beziehung zum verlorenen Kind niemals sterben wird. Nach vielen Jahren ohne Kontakt zu meinem Sohn kann ich diese Aussage bestätigen. Er ist gegangen, aber meine Liebe für ihn ist nach wie vor stark. Durch diese Liebe im Geiste und durch die Erinnerungen bleibe ich mit ihm verbunden. Er ist gegangen, die Beziehung zu ihm ist geblieben. Das gibt friedvolle Gefühle. Wie er die Sache selber erlebt wird ein Geheimnis bleiben.

Rituale

Eine Beerdigung macht den Verlust eines Menschen fassbar. Die Hinterbliebenen treffen sich, erinnern sich und nehmen gemeinsam Abschied. Das Ritual hilft, den Schmerz zu bewältigen. Ein Kind, welches seine Eltern aus seinem Leben verbannt hat, kann man nicht beerdigen. Wie aber kann man dieser verstörenden Erfahrung Ausdruck geben? Und da bleibt ja auch noch immer ein Stück Hoffnung auf ein Wiedersehen im Hier und Jetzt. Es ist schwierig, einen lebenden Verlust gänzlich etwas anderem (einer Höheren Macht, für mich Gott) zu überlassen, obwohl dies der eigentliche Schlüssel zur Veränderung ist.
Auch beim Verlust eines lebenden Kindes können Rituale helfen. Kürzlich habe ich von einer Mutter gehört, welche ihrem verlorenen Kind zum Geburtstag einen Brief schreibt. Sie schickt die Briefe nicht ab, sondern legt sie in einen Ordner. »Vielleicht liest er die Briefe, wenn ich gestorben bin«, denkt sie. Ich suche am Geburtstag oft einen Kraftort auf, verbinde mich mit meinem Sohn, spüre, wie ich ihn vermisse, weine, bete für ihn, esse etwas Feines – und gehe gestärkt nach Hause.

Unnatürlicher Trauerfall

Der Kontaktabbruch eines Kindes ist ein schwerer lebender Verlust. Er stört nicht nur den Schlaf, sondern auch das Gefühl von Vertrauen in das Leben. Er verletzt den innersten Kern. Eine Lebensordnung ist gestört.
Die Verzweiflung darüber kann enorm sein, auch die Einsamkeit. Wer will und kann eine solche Erfahrung schon mit einem teilen. Doch auch bei einem solch »unnatürlichen Trauerfall« ebben die stürmischen Trauerwellen irgendwann ab – und es bleibt Traurigkeit. So betrachtet ist ein Kontaktabbruch ein ganz »normaler Trauerfall«, der viel Zeit benötigen kann. Geheilte Wunden können immer wieder aufreissen, wie bei einem Todesfall oder einem verwehrt gebliebenen Lebensereignis auch. Jederzeit und unverhofft kann uns ein seelischer Schmerz ereilen.
Das gehört zum Leben.
Nach einem tiefgreifenden Verlust gehört es dazu, dass man beim Klingeln des Telefons an das Schlimmste denkt.
Es wird nie mehr sein, wie vorher. Wir lernen spätestens jetzt definitiv, dass wir keine Kontrolle über das Leben unserer Kinder haben, über das Leben überhaupt.
In Gottes Hände können wir unsere Kinder und unser Leben immer legen.