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Wenn Menschen älter werden, halten sich manche an bedeutsamen Erinnerungen fest, an Ereignissen, die einen vielleicht zum Lächeln bringen, oder zum Weinen. Man möchte verstehen, wie Erfolge und Fehler, private und gesellschaftliche Ereignisse den Lauf des eigenen Lebens mitgeprägt haben. Vergangene Geschichten können im besten Fall Zufriedenheit auslösen und manchmal das Blut erstarren lassen
Nichts griff tiefer in mein Leben ein, als die Geburt meiner Söhne. Wie einzigartig fühlte ich mich dabei. Und wie besonders waren meine Babys für mich. Nun stehen sie mitten im Leben und sind noch immer einzigartig – wie jeder Mensch, wie ich inzwischen realisiert habe. Auch nach mehr als vierzig Jahren erinnere ich mich glasklar daran, wie der Geburtsprozess mich physisch und seelisch überwältigt hat. Der Schmerz der Wehen hingegen hat sich entfernt. Noch gegenwärtig sind das starke Gefühl einer tiefen Zuneigung und die Ahnung von unergründlichen Verstrickungen, als ich die kleinen Wesen das erste Mal in meine Arme schliessen durfte. Ich würde für immer Mutter sein. Damals wusste ich zwar noch nicht wie, aber dass die Kinder, die mir in meine Obhut gegeben worden sind, mich lebenslag bewegen, erfreuen und herausfordern würden. Sie haben mich auf Trab gehalten, mir Glück, Sorgen und Leid beschert. Und Sinn. Nun sind beide weiter weg, leben intensiv. Ich denke jeden Tag an sie, die Männer vermutlich ziemlich selten an ihre Mutter. Der Eine hat sich von mir abgekehrt, der andere hat vor allem das Positive aus seiner Kindheit behalten. Und ich realisiere, dass einstmals Dringendes und Drängendes heute bedeutungslos erscheint. Auch die erlebte Freude und das durchgelittene Leid haben an Intensität verloren.
Ich hatte nie ein gutes Gedächtnis. Vieles ist mir entwichen. Vielleicht meint das Vergessene es gut mit mir.
Mich dem Leben zuwenden
Nachdem ich von Annie Ernaux Die Jahre gelesen hatte, fasste ich einen Entschluss bezüglich meines vergangen Lebens. Wie kam es dazu?
Ich hatte das Buch nur häppchenweise lesen können. Der Text faszinierte mich und hat mich öfters schmunzeln lassen. Er war auch etwas anstrengend.
Das Buch handelt von den gelebten und reflektierten Jahren einer Aufsteigerin in Frankreich, welche auf der Basis ihres individuellen Gedächtnisses ein kollektives finden will (S. 252). Eine Sie erzählt aus der man Perspektive (oder erzählt man von einer Sie) von unzähligen persönlichen, politischen und kulturellen Ereignissen. Ihr Leben ist auf dem Hintergrundrauschen von man wie ein Film an mir vorbeigezogen. Ich war voller Neugier auf ihre Geschichten, auf ihre Sicht der Veränderungen, Ideen und Glaubenssätzen, auf ihre Hoffnungen und Enttäuschungen. Ich brennte auf das, was sie durch die Zeit getragen hat, was es ihr ermöglicht hat, zu bestehen, was sie mitgestalten konnte, was ihr wichtig war und geblieben ist. Schön war, dass ich einige Erfahrungen der Verfasserin sehr gut nachvollziehen konnte, beispielsweise die Entwicklung der Konsumgesellschaft oder den Stress einer berufstätigen Mutter.
Selten aber hat ein Buch mich so leer zugelassen. Gegen die man Sicht sträubte ich mich. Man kam mir absolut und undifferenziert vor. Oft habe ich anders gedacht und empfunden als man, war oft neben man und habe mich dadurch einsam gefühlt. Ich empfand mich nicht als Teil davon, wollte nicht diffuse Masse sein. Niemand ist man, auch wenn viele die gleichen Sneakers tragen oder Putin als gefährlich betrachten. Ich stelle fest: Das soziologische Denken geht mir definitiv ab. Auf den letzten Seiten dann ist die Sie mir nähergekommen, ist mir authentischer, differenzierter, weicher erschienen, man existiert selbst auf dem Hintergrund nicht mehr.
Soziologisch gesehen gehöre ich nun zu den Alten, da meine Erwerbsphase hinter mir liegt. Mein Man sind die Alten. Ein alter Mensch habe keine Zukunft (letztlich hat niemand eine), er schaue deshalb zurück, hört man reden.
Jeder Mensch hat ein Jetzt. Ich will wach durch die Tage gehen, Vergangenes begreifen und klären, mich von Gegenwärtigem berühren lassen und im Kleinen mitgestalten. Schreiben hilft mir dabei. Es hilft mir dabei, den Geist zu klären und mich dem Leben zuzuwenden. Auch in meinen alten Tagen.
14.3.2023