Meine Lieben
Wie lange leben Sie wohl schon ohne Verbindung zu Ihrem Kind? Bei mir ist der Kontakt zwischen mir und meinem Sohn vor 14 Jahren abgebrochen. Wenn ich Ihnen jetzt diesen Brief schreibe, konnte ich schon eine Weile üben, damit zu leben.
Kürzlich brach während einer Meditation der tiefe Schmerz um den Verlust erneut auf. Als die Welle der Trauer irgendwann wieder versiegte, fühlte ich mich so müde, als hätte ich schwere Arbeit erledigt.
»Lass die Gefühle jetzt zu, der Sturm zieht vorüber,« sagte ich mir, wusste aber auch, dass ich diesen Schmerz auf keinen Fall ‘pflegen’ will.
Wer einen geliebten Menschen verloren hat, weiss, dass einen die Trauer auf dem falschen Fuss erwischen kann. Da kommen wir nicht umhin. Die Gefühle sind oft nicht vorhersehbar und nicht immer kontrollierbar. Aber man kann Situationen meiden, die den Schmerz befeuern, oder solche bewusst angehen. Wenn ich an einer Bäckerei vorbei gehe, wo wir immer ein Eis gekauft haben, sage ich mir auf dem Weg:
»Ah, da bin ich wieder. Das war schön, als ich meinem Kind ein Eis schenken konnte,«… und lasse die Sehnsucht ziehen.
Vielleicht sind auch Sie zur Überzeugung gekommen, dass wir als Mutter oder Vater, auch beim besten Willen, vieles nicht hätten anders machen können. Wir haben unser Bestes versucht, und im Nachhinein gesehen, dass nicht alles gut war. Schonen müssen wir uns nicht, aber uns auch nicht endlos mit Fehlern in der Vergangenheit quälen. Seien wir ganz einfach ehrlich und demütig – und gehen aufrechten Ganges weiter.
Wir werden den Entscheid unserer Kinder, die ihre Wege ganz ohne uns gehen wollen, nie ganz verstehen können. Deshalb wünsche ich Ihnen – allen verlassenen Eltern und Geschwister –, dass Sie sich aus dem Knäuel von destruktiven Gedanken und Gefühlen befreien können. Wir werden nie an ein geklärtes Ende kommen.
Heute sage ich mir in meinen frei flottierenden Selbstgesprächen zu Menschen, die mir weh tun:
»Der Kontakt zu mir tue dir nicht gut. Dir ist anderes wichtiger. Ok, ich habe verstanden. So lebe ein gutes Leben.« Aufdrängen will ich mich niemandem, schon gar nicht um Anerkennung, oder um Liebe buhlen – auch nicht in Gedanken. Dabei fühle ich mich natürlich ein bisschen trotzig und auch wehmütig.
Hinter der Sehnsucht nach dem Verlorenen habe ich die Sehnsucht nach dem Göttlichen entdeckt. Dem möchte ich mich, so oft ich kann zuwenden. Die Gedanken darüber, wie es war und wie es vielleicht doch noch kommen könnte (ein Wiedersehen), sollen den Draht zu Gott nicht beeinträchtigen. Auch Sie können herausfinden, wovon der Schmerz um das Kind Sie abhalten könnte.
Sie haben schon so viel gelitten. Ich wünsche Ihnen, dass Sie ins Reine kommen mit der Absage ihrer Kinder an Sie. Sie werden kaum jemals ohne Schmerz darüber sein. Aber Se sind mehr als eine verlassene Mutter, oder ein verlassener Vater.
Ihr Kind hat sich entschieden. Auch Sie können neue Entscheidungen treffen und Ihre Sehnsucht auf neues Wesentliches richten. Das ist keine Entscheidung gegen das Kind – vielleicht eher eine Befreiung aus der Macht, die die verlorenen Kinder mit ihrer Unversöhnlichkeit ausüben.
Es gibt etwas ausserhalb der persönlichen Bindungen.
Ich hoffe, dass meine Gebete Sie auf irgendeine Weise aufbauen.
Und ich wünsche allen Kindern, die ihre Eltern offenbar so gar nicht ertragen können und wollen, dass sie sich selbst ertragen und erfüllt leben.
Mir unbekannt, doch tief mit Ihnen verbunden grüsse ich Sie von Herzen
Ihre Irina Bach.