»Bist du traurig?«, fragte der dreizehnjährige Fa Shi seine Mitschülerin, nachdem sie vom Wochenende berichtet hatte.
Bei meiner Arbeit mit kognitiv beeinträchtigten Kindern fällt mir immer wieder auf, wie einfühlsam viele sind. Sie können zwar weniger gut rechnen und lesen, haben aber, so scheint mir, starke Seelenkräfte. Sie nehmen einander wahr, sind einander zugeneigt, fühlen mit anderen mit, lassen einander spüren, dass sie sich mögen, oder auch nerven. Diese Kinder scheren sich nicht darum, welche Position jemand hat, ob man grau oder blond, dick oder dünn ist. Sie wollen im Kontakt sein, weil sie intuitiv fühlen, was sie nicht wissen: Beziehung ist die Basis für fast Alles. Beziehung ist der Anker in ihrem Leben.
Das Auge des Herzens
»Man sieht nur mit dem Herzen gut, das Wesentliche ist für die Auge unsichtbar,«
sagt der weise Fuchs zum kleinen Prinzen, der traurig ist, weil seine Rose ihn verletzt hat.
(In: Le Petit Prince von Antoine de Saint-Exupéry, New York, 1943.)
Der Fuchs hat den kleinen Prinzen in das Wesen von wahrhaftigen Begegnungen eingeführt, nämlich das Einzigartige im Anderen erkennen und wertschätzen, füreinander da sein, voneinander lernen, hinter die Fassade gucken, und das mit dem Auge des Herzens. Sein Freund lehrte ihn ausserdem, dass auch Dornen einen wachsen lassen können.
Gut sehen bedeutet, den Kummer und die Freude sehen, bedeutet hin- statt wegsehen. Jemanden gut sehen meint, bei jemandem zu verweilen, in Gedanken oder im Gespräch. Mit dem Herzen sehen kann in Stille und bei geschlossenen Augen geschehen. Dazu braucht es die Augen nicht wirklich.
Gott ist dem Menschen zugeneigt, ganz ohne Augen, sondern kraft seiner unendlichen Liebe. Er sieht mehr als wir ahnen. Könnten wir in seinem Liebesfluss leben, würden wir ganz ohne Mühe mit dem Herzen sehen können. Empathie wäre Courant normal. Wir könnten besser verstehen, was Andere beschäftigt.
Mit dem Auge der Liebe sehen, würde viel Verkehrtes in neue Bahnen lenken. Statt uns vor Fremdem zu ängstigen, würden wir es verstehen wollen und im besten Falle wertschätzen lernen. Destruktives Handeln würden wir weiterhin ohne Wenn und Aber verurteilen, nie aber pauschal einen Menschen. Mit dem Herzen sehende Menschen erahnen das abgrundtiefe Leid, das sich im Gesicht so vieler Menschen spiegelt. Und vielleicht vermag das Gesicht des Leids in all seinen Ausprägungen den eigenen Groll im Herzen aufzulösen. Ganz und gar. Mit dem Herzen sehen lässt keine Zeit für eigene Bitterkeit. Es schafft mehr Raum für die Liebe. Irgendwann sogar für jene, die uns weh tun.
Es gibt keine Lösung der grossen Probleme ohne einen neuen Blick. Wir können diesen Blick der Liebe kraft der göttlichen Liebe einüben. Und wenn wir manchmal das Gefühl haben, dass niemand uns mit dem Auge des Herzens wahrnimmt, dürfen wir glauben, dass der Blick des Göttlichen immer und überall und auf allen und allem ruht.
Um das Auge des Herzens bitten
Könnt’ ich doch im Dunst des Göttlichen
durch diese Zeiten gehen
und alle Menschen mit dem Herzen sehen.
Im ewigen Liebesfluss verliert die Angst an Macht.
Das Licht verdrängt die Nacht.
Die Worte kommen aus dem Herzen.
Gott,
der du in die tiefste Tiefe siehst,
und mich trotz allem liebst,
ich möchte mit dem Herzen sehen.
Amen