»Es ist niemals zu spät, aber immer höchste Zeit.« [1]
Für Alfred Adler war es dringend, er hat dieses Zitat während des ersten Weltkrieges verfasst, dass Menschen ein Gemeinschaftsgefühl entwickeln, also mit den Augen eines anderen sehen, mit den Ohren eines anderen hören, mit dem Herzen eines anderen fühlen lernen.
Theo Schoenaker (2022) führt dazu aus: »Es geht bei Gemeinschaftsgefühl um das Verhalten des Einzelnen zu seiner Umgebung, zu seiner Familie, zu seinen Kollegen (und Kolleginnen, Anm. Verf.), aber auch um das Verhalten der Staaten und Nationen zueinander. Der Begriff „Gemeinschaftsgefühl“ umfasst alle erstrebenswerten Eigenschaften und Verhaltensweisen, die Ausdruck von Mitmenschlichkeit und Zusammenarbeit sind« (S. 35-46).[2]
Victor Frankl hat Adlers Zitat um eine Zeitdimension erweitert:
»Es ist nie zu spät, aber auch nie zu früh, es ist immer höchste Zeit«.
Ihm ging es um den Sinn des Lebens, der im Dienst an einer Sache oder an Menschen gefunden werden kann. Frankl hat auch grossem Leid Sinn abgerungen. Er, der den Holocaust überlebt hat, muss es wissen. Durch sein Vorbild und mit seinen psychologischen und philosophischen Arbeiten zeigt er uns Wege der Bewältigung von Schrecken und Trauma.[3]
Die Frage nach dem Sinn stellt sich Allen. Darin sind sich alle Menschen gleich. Doch jede Situation erfordert ihre eigene Antwort. Zeit dafür ist es immer.
Wofür ist es höchste Zeit?
Was steht für mich, für dich, in der Welt dringend an?
Als mein verlorener Sohn kürzlich vierzig wurde, schickte ich ihm eine erlesene Karte und schrieb ihm das obige Zitat von Frankl: Es ist nie zu spät, aber auch nie zu früh, es ist immer höchste Zeit – für Versöhnung und Liebe. Dass es auch zu spät werden könnte, habe ich nur gedacht.
Irgendwo in meinem Herzen lebt die Hoffnung, dass die Liebe sich immer irgendwann ihren Raum nimmt. Denn die Liebe, diese Grundessenz des Lebens ist da. Davon bin ich überzeugt. Sie ist immer da, ausser sie werde zu Tode getrampelt. Doch auch eine zu Tode getrampelte Liebe wird sich neu entfalten. Das ist die Botschaft des Leidens und der Auferstehung von Jesus. Weil ich daran glaube, glaube ich an die Widergeburt jeder Liebe. Wann und Wo, das bleibt leider oft ausserhalb des Einflussbereiches von uns Menschen – auch im Falle meines verlorenen Sohnes, den ich noch immer so sehr liebe. Eine Antwort auf meine Geburtstagswünsche erwarte ich jetzt nicht sehnsüchtig. Käme eine, wäre ich erstaunt.
Und wofür ist es noch höchste Zeit – heute?
Vor etwas mehr als hundert Jahren predigte Adler das Gemeinschaftsgefühl als das Wesentliche, was die Welt brauche. Die vergangenen Jahrzehnte haben wir die Globalisierung und das Streben nach individueller Einzigartigkeit erlebt. Immer mehr, immer weiter, immer schneller, immer besser, immer älter, immer mehr Selbstverwirklichung, immer mehr Konsum!
Da musste einiges auf der Strecke bleiben: Das Nachdenken über Sinn in einer zunehmend sinnentleerten Gesellschaft, ein freundliches Miteinander in einer zunehmend multikulturellen Gesellschaft, der sorgsame Umgang mit unserer zunehmend gestressten Natur, der innere Friede in einer rastlosen Dynamik. Von Gerechtigkeit und Frieden in der Welt sind wir noch immer weit entfernt, obwohl wir Menschen doch das Potential dafür in uns tragen, wie Bregmann in seinem Buch «Im Grunde gut» so eindrücklich aufzeigt.[4]
Ich meine: Es ist höchste Zeit für weltweite Gerechtigkeit, damit Frieden wachsen kann – und für Verbindlichkeit – und in unseren Breitengraden für weniger Verbrauch von lebenswichtigen Ressourcen.
Dann kann es gut kommen.
[1] https://akademie-individualpsychologie.ch/wp-content/uploads/2015/10/Nr.-15-gemeinschaftsgefuehl.pdf (gelesen am 11.11.2022)
[2] Schoenaker, Theo ( 2022): Das Leben selbst gestalten: Mut zur Unvollkommenheit. Speyer: RDI Verlag, 3., Edition (1. August 2022), S. 35-46.
[3] https://www.sinndeslebens24.de/klassiker-von-viktor-frankl-der-mensch-vor-der-frage-nach-dem-sinn-zitate (gelesen am 11.11.2022)
[4] [4] Bregmann, Rutger (2020): Im Grunde gut: Eine neue Geschichte der Menschheit. Hamburg: Rowohlt Verlag GmbH.