Vom unsäglichen Lärm dieser Zeit

Mein Kopf ist leer. Und müde. So viele Stunden habe ich geübt, ihn frei zu bekommen. Nun bin ich besorgt. »Stimmt etwas nicht mit mir«, frage ich mich, »woher kommt diese Müdigkeit?« Je ruhiger es in meinem Kopf ist, desto lauter kommt mir der Lärm dieser unsäglichen Laubbläser vor, oder das Klappern von Geschirr beim Spülen. Ich bitte das Kind im Bus, die Musik leiser zu stellen. Überall Krach, die Lärmbelastung macht mir zu schaffen.
Was der ukrainische Philosoph Vasyl Cherepanyn im Gespräch mit Pascal Blum sagt, macht mir noch mehr zu schaffen (vgl.: »Wir stehen jetzt am Anfang einer grossen Katastrophe.« In: Der Bund, 23.11.2022, S. 29.) Europa unterschätze Putins Psychopolitik. Der Angriff auf sein Land sei Teil eines kolonialen Projekts Russlands, so Vasyl Cherepanyn. Er beklagt, dass Europa keine gemeinsame Politik mit den postsowjetischen Ländern, also mit Armenien, Aserbeidschan, Belarus, Georgien, Moldau und der Ukraine betreibe. Das Verhältnis zwischen Europa und diesen Ländern sei eine Form des »Othering«[1], also eine Distanzierung. Russland nutze dies mit neoimperialen, militärischen Mitteln aus. Wie schrecklich diese sind, zeigt Butscha. »Wir haben ja immer noch nicht verstanden, was für ein Massaker die Russen dort nach ihrem Rückzug angerichtet haben.«, sagt Cherepanyn.
Solche Analysen verbreiten Angst und Unbehagen in mir. Und sie machen sehr müde. Jeden Tag aufs Neue. Wie müssen sich erst die Ukrainer und Ukrainerinnen fühlen, in der Kälte, unter dem ständigen Druck und Lärm der eiskalten, brutalen Waffengewalt des Kremls.
Ich denke an Angela Merkel, die mehr wusste, als manche denken. Sie kannte Putins Allmachts- und Grossmachtsphantasien, sie wusste um seine Destruktivität, wenn es um eigene politische Ziele ging. Selbst diese erfahrene Politikerin, naiv war sie gewiss nicht, konnte mit dem eindimensionalen Putin in Sachen Menschen- und Völkerrecht auf keinen grünen Zweig kommen.

Vom unsäglichen Schrecken in der Welt

Es betrübt, an all die leidgeprüften Menschen
in der Ukraine,
in Russland,
in Afghanistan,
in Palästina,
im Iran,
in Xizang, dem ehemaligen Tibet zu denken,
oder an die Uiguren in der chinesischen Provinz Xinjiang, dem früheren Ostturkestan,
an all die Ungerechtigkeiten in der ganzen Welt. Die Liste darüber würde sehr lang ausfallen. Der Schrecken dieser Zeit ist viel grösser und gewaltiger, als ein Mensch fassen – gar in Worte fassen könnte. Inzwischen überspringe ich Erfahrungsberichte aus den Kriegsregionen, zu quälend sind die Bilder und die Worte. Mit meinem Mitgefühl komme ich mir irgendwie schäbig vor. Wie einfach ist es doch, im sicheren Hafen das Leid der Geprüften zu beklagen. Was bewirkt schon das Entsetzen über die eigene Ohnmacht! Mein Mitgefühl hilft niemandem. Auch mir nicht. Es fällt keine einzige Bombe weniger auf Kiew. Kein Mädchen kann deswegen in Afghanistan eine Schule besuchen.
Der Schrecken dieser Zeit macht müde.
Meine Stimmung verbessert sich, wenn ich mir bewusst mache, wieviel Gutes und Wunderbares es neben dem Destruktiven in der Welt gibt. Behalten wir den Blick für das Positive, auch wenn Schreckliches da ist. Auch in einer lärmigen Welt schwingen zarte Töne. Setzen wir der Müdigkeit etwas entgegen! Schaffen wir Oasen des (inneren) Friedens. –
Ah. Der Gebetsalarm für die Ukraine erklingt, es ist 16.00 Uhr. Weltweit beten nun Menschen. Ich möchte, dass die Gebete den Lärm und die Schrecken der Zeit durchdringen. Ich möchte, dass die Menschen im Krieg die guten Gedanken hören und unsere Solidarität spüren.

Gebet für die Ukraine

Liebender Gott,
zeig dein Erbarmen allen,
die an der Kriegsfront schuften,
über Angriff und Rückzug entscheiden,
und dabei Gewalt ausüben und erfahren müssen.

Heilender Gott,
schenk Wärme den frierenden, und
Speise den hungernden Menschen.
Heile die Wunden an Körper und Seele.
Lass niemanden am Grauen des Krieges verzweifeln.

Tröstender Gott,
besänftige die Trauer über Verlorenes.
Richte die Verletzten auf, und
tröste die Hinterbliebenen.
Lass sie, trotz Trauma in Würde leben.

Schützender Gott,
begleite Waisen und Heimatlose,
alle, für die niemand sorgen kann.
Beschütze die Alten und Kranken,
und alle Menschen auf der Flucht.

Du Gott des Friedens!
Weise uns Wege in eine gerechte Welt,
wo wir einander verstehen.
Besänftige den Lärm der Zeit.
Wir wollen dem Klang des Friedens lauschen.

Amen


[1] Von Othering spricht man, wenn eine Gruppe oder eine Person sich von einer anderen Gruppe abgrenzt, indem sie die nicht-eigene Gruppe als andersartig und fremd beschreibt.