In seiner Novelle »Die souveräne Leserin«, einer Hommage an die Queen, lässt Alan Bennett die kürzlich verstorbene Königin Elisabeth II. das Lesen entdecken und phantasiert über den weitreichenden Einfluss der Literatur auf die Monarchin. Auf Seite 80 lässt der Schriftsteller seine Protagonistin eine Lebensweisheit mit einer ebenso bemerkenswerten wie verwirrlichen Fussnote in ihr fiktives Notizbuch schreiben:
»Ein Weg zum Glück ist es, ohne Ansprüche zu sein.«
Und die Fussnote:
»Diese Erfahrung blieb mir in meiner Stellung allerdings immer verwehrt.«
Die Queen hat kaum je eine solche Bemerkung geäussert, schon gar nicht in der Öffentlichkeit. Klängen solche Worte aus dem Mund einer steinreichen, ziemlich realitätsfern lebenden Frau nicht gar zynisch? Doch wer weiss? Vielleicht trank sie ihren Tee doch unfreiwillig aus einem goldenen Tässchen? In Bezug auf das Vertreten einer eigenen Meinung allerding hat sich die Monarchin, zumindest in der Öffentlichkeit, in Anspruchslosigkeit geübt. Man wusste nicht, was sie wirklich denkt, beispielsweise über die diversen Premierminister und Premierministerinnen oder über die viel gescholtene Meghan. In diesem Sinne könnte sie als persönlich anspruchslos gelten – und hätte den Weg zum Glück eigentlich finden müssen. War sie etwa als Dienerin ihrer Untertanen glücklich und als Besitzerin von Juwelen und Schlössern unglücklich?
Anspruchslosigkeit ≠ materielle Armut
Auch die buddhistische Lehre predigt Anspruchslosigkeit, Bescheidenheit und Fürsorge als Schlüssel zum persönlichen Glück. Gier hingegen behindert die persönliche und gesellschaftliche Harmonie. Grenzenloses Besitzstreben ist die Ursache von Leid. Eine solchermassen verstandene Bescheidenheit soll keineswegs unfreiwillige Armut legitimieren. Buddha war das materielle und geistige Wohlergehen aller Menschen sehr wichtig. Auch Jesus hat in der Bergpredigt nicht etwa die unfreiwillige Armut seliggesprochen, als er zu den Jüngern sagte »… Selig seid ihr Armen; denn das Reich Gottes ist euer.« (Lukas 6,20) Mit diesen Worten solidarisiert er sich mit ungerecht behandelten Menschen und verspricht, dass sich die Verhältnisse bei Gott wandeln. Hoffentlich schon im Hier und Heute, denke ich oft, denn für wirklich arme Menschen muss die Vertröstung auf ein Irgendwann unerträglich sein.
Hand aufs Herz! Wie lässt sich angesichts einer kalten Wohnung und einem endlos knurrenden Magen Anspruchslosigkeit als Weg zum Glück preisen? Wer mag sowas aus dem Mund von Menschen hören, die Wasser predigen und Wein trinken?
Weniger ist Mehr
Immer wieder ertappe ich mich bei ichbezogenen Wünschen. Noch weit entfernt von Anspruchslosigkeit bleibt für mich diese Haltung als Weg zum Glück ein faszinierender und wegweisender Gedanke. Mehr und mehr erahne (und erfahre) ich, dass die innere Harmonie unabhängig von Besitz oder Ansehen wachsen kann. Wer weniger auf Statussymbole und Anerkennung fixiert ist, kann die schlichten Geschenke des Lebens besser wahrnehmen und schätzen lernen. Wer weniger fixen Vorstellungen nachhängt, findet den inneren Frieden in dem, was möglich ist.
Meine Söhne haben früher regelmässig bemerkt: »Uns geht es so gut, weil wir wenig haben.«
Wir lebten (immer relativ gesehen) einfach in einer bescheidenen Stadtwohnung, fuhren kein Auto. Ich hätte mehr als ein Paar Sneakers für die Jungs kaufen können. So hatten wir ein materielles Polster, womit sich natürlich besser als mit einem leeren Portemonnaie bescheiden leben lässt. Dennoch: Mich freut noch heute, dass unsere massvolle Lebensführung den Jungs die Erfahrung von Reichtum geschenkt hat. Wir haben erfahren, dass Weniger nicht nur genug, sondern sogar mehr ist.
Anspruchslosigkeit – ein Gebot der Stunde
Wo ich lebe (in der Schweiz), sind bescheiden lebende Menschen noch immer bessergestellt als die meisten Menschen. Weltweit leiden viele grossen Mangel. In dieser Zeit der Ungleichheit kann es nicht mehr bloss um den eigenen, inneren Frieden gehen. Anspruchslosigkeit sollte mehr als ein privater Weg von satten Menschen zu einem harmonischen Ego sein. Wir können (und sollten) zu Gunsten unseres persönlichen Heils und zugunsten einer heilen Welt freiwillig auf Ressourcenverschwendung und Rechthaberei verzichten. Es muss sich nicht Alles um das persönliche Glück drehen: Um mein Ego, meine Sicherheit, mein Befinden, mein Recht, meine Anerkennung. Anspruchslosigkeit bedeutet auch, sich zu fragen, was Andere brauchen. Fürsorgliches Denken wird uns dazu bringen, weniger für uns und mehr für andere zu wollen – und zu tun. Das ist in vielen Lebenslagen möglich und gefragt. Wo Sicherheiten gefährdet sind, ist eine fürsorgliche Haltung ganz besonders der Weg zum inneren Frieden in einer friedlosen Zeit. Es ist jetzt wichtig (darf ich ein bisschen moralisierend sein?), eigene persönliche Wohlfühlansprüche, etwa an die Temperatur im Wohnzimmer, zugunsten von Freiheit und Frieden in der Welt zurückzustellen. Es geht um das Heil der ganzen Welt und um das Glück von jedem Geschöpfs. Der Mensch ist dann glücklich, wenn er dazu beiträgt, dass es einem anderen Menschen auch gut geht.