
Ich kenne Menschen, die über die Wahrheit zu verfügen scheinen. Sie kennen auch die richtige Antwort auf die Frage, wie wir seelische Schmerzen heilen können: Die Lösung liegt in der Selbstliebe:
Bändige deine inneren Kritiker, indem du dir sagst: »Ich bin ok.«
Tue dir Gutes: Entspanne dich bei guter Musik, massiere dich liebevoll mit einem wohltuenden Öl.
Schaue in dein Spiegelbild und sprich zu dir: »Ich liebe dich.«
Selbstliebe ist im Trend. Google versorgt Suchende mit unzähligen Ratgebern zur Praxis eines liebevollen Umgangs mit sich selbst. Manche Anregungen haben auch mir schon gut getan.
Wenn eine Freundin mir als Rat auf den nicht vergehenden Schmerz um meinen verlorenen Sohn mehr Selbstliebe empfiehlt, meint sie das bestimmt gut. Sie gibt mir damit aber, sicher ungewollt, das Gefühl, dass ich etwas falsch mache. Weil du zu wenig Selbstliebe praktizierst, heilt dein Schmerz nicht oder nicht schnell genug. Das könnte die dahinterliegende Botschaft sein. Fremdes Leid kann belasten, dann greifen Menschen gerne zu Ratschlägen: »Tue etwas, tue mehr! Gönne dir eine Psychotherapie, umarme dich selbst!«
Können wir uns selbst heilen?
Unser Leben ist ein Geschenk. Wir sollten sorgsam damit umgehen, jeder und jede auf seine Weise. Das mag Selbstliebe einschliessen. »Liebe deinen Nächsten wie dich selbst,« hat auch Jesus gesagt (vgl. Markus 12, 32). Es war ihm damit sehr ernst. Für ihn war die Selbstliebe das wichtigste Gebot.
Woher aber nehmen wir die Kraft dazu? Was tun wir, wenn der Ärger oder die Traurigkeit erneut hochkommen? Machen wir etwas falsch? Was ist heilende Selbstliebe, wo beginnt Ichbezogenheit?
Heute habe ich eine kleinere Aversion gegen den Begriff entwickelt. Selbstliebe als letzte Instanz unseres Heils überhöht die Bedeutung und Kraft unseres persönlichen Willens. Sie kann uns ermüden statt aufbauen, frustrieren statt ermutigen.
Ich bin überzeugt, dass der Mensch seine Verletzungen nicht vollständig selbst heilen kann. Wir können (und sollten) zwar unsere Selbstheilungskräfte aktivieren und auf sie bauen. Gleichzeitig dürfen wir Heilung geschehen lassen. Wir können sie unterstützen, nicht aber willentlich erzwingen, wir können sie zulassen, nicht aber selbst veranlassen. Heilung ist letztlich ein Geschenk des ewigen Du. Wir können uns dafür öffnen.
Heil sein ist kein Zustand.
Wir bleiben wohl Zeit unseres Lebens mehr oder weniger zweifelnde und vulnerable Wesen. Wer balanciert im Alltag nicht immer mal wieder zwischen Gefühlen von Stärke und Schwäche. Jederzeit kann Unheil in das Leben einbrechen. Heil sein ist in meiner Erfahrung selten ein lang andauernder Zustand. Ein einmal gewonnenes Gleichgewicht kann sich rasch verflüchtigen.
Möglicherweise besteht heil sein darin, uns nicht immer zu entsetzen, wenn wieder eine Schmerzenswelle anrollt. Vielleicht bedeutet heil sein, mehr Geduld und Gelassenheit mit dem persönlichen Schicksal aufbringen, darauf vertrauen, dass wir durch die Stürme getragen werden.
In diesem Sinne erfordert Heilung nicht mehr persönliche Anstrengung, eher weniger. Wir werden heil, indem wir unsere Aufmerksamkeit weniger auf das vergängliche Ich fokussieren, sondern mehr auf die Liebe des ewigen Du.
Iba, 18.9.2019