An einem erfüllten Tag

Fülle

 

Während vieler Jahre empfand ich oft einen Mangel – schon bevor mein Sohn mich aus seinem Leben verbannt hat. Es fehlte mir ein Partner, mangelte mir an Ruhe, ich vermisste ein Geschenk unter dem Weihnachtsbaum oder sehnte mich nach dem Meer.
Während der vergangenen zehn Jahre war mein verlorener Sohn Ziel meiner Sehnsucht.
Sein Kontaktabbruch war mein persönliches Elend, die chronisch wunde Stelle in mir, das immerwährende Defizit. Ich denke nach wie vor jeden Abend und jeden Morgen, auch tagsüber an ihn. Die Verzweiflung hat sich verzogen. Ein leises Weh bleibt. Ich vermisse ihn, doch einen Mangel fühle ich nicht. Es fehlt mir heute nichts, im Gegenteil: Ich darf nach einer komplizierten Schulteroperation Heilung erfahren. Ich liebe diesen Tag – bin erfüllt und verwundert. Dietrich Bonhoeffer hatte recht: »Gott ist bei uns am Abend und am Morgen, und ganz gewiss an jedem neuen Tag.«[1]

Dankgebet für die Fülle des Lebens

Gott –
Ich bin lebendig –
danke für deine Energie, die mich durchströmt.

Ich bin kräftig –
danke für deine Kraft, die mich erneuert.

Ich bin weich –
danke für deine Liebe, die mich besänftigt.

Ich bin friedvoll –
danke für deine Güte, die mich beruhigt.

Ich bin wohlauf –
danke für deinen Segen, der mich heilt.

Ich bin wach –
danke für dein Licht, das mich weckt.

Danke mein Gott – Danke.

Amen

[1] Christian Gremmels & Wolfgang Huber (Hrsg.) (2006): Dietrich Bonhoeffer: Auswahl Band 6 Aufzeichnungen aus der Haft 1943-1945. München: Gütersloher Verlagshaus, S. 203-204.