Fortgehen, um zu finden?



Auf der Seite der Todesanzeigen ist mir dieses Zitat ins Auge gesprungen:

Man muss manchmal von einem Menschen fortgehen, um ihn zu finden.
Heimito von Doderer, 1896-1966

Klingen solche Worte in den Ohren von Hinterbliebenen nicht zynisch. Nur wer an ein Leben nach dem Tod glaubt, kann auf ein Wiedersehen in der geistigen Welt hoffen. Oder ist das Zitat ein Wink für das Zusammenleben in der irdischen Welt?

Fortgehen heisst zurücklassen

Menschen, die man finden möchte, sind Menschen, die man liebt. Selbst in Kriminalgeschichten, in welchen gekränkte Menschen ihre Peiniger suchen und Rache nehmen wollen, geht es oft um Liebe.

Wer möchte einen bedeutsamen Menschen nicht halten, wenn er einem abhanden kommt? Fragt sich, ob eine Frau aus der Distanz heraus einen neuen Zugang zu ihrem Mann finden – der Freund seinen Freund neu sehen kann? Heimito von Doderer muss damit positive Erfahrungen gemacht haben.
Oder sucht ein Mensch im Fortgehen sich selbst? Ist ihm ob dem Bezogensein auf Andere das Eigene verloren gegangen?
Distanz schafft Raum zum Atmen. Wenn sich der Blickwinkel weitet, sieht man mehr – und Bekanntes neu. Gedanken gewinnen an Klarheit. Bedeutsames zeigt sich mühelos. Gefühle von Vermissen und Sehnsucht tauchen auf. Und dann? Gefunden?
Was Distanz tatsächlich bewirkt, weiss man erst nach dem Experiment. Vielleicht ist Fortgehen ein entspannender, vielleicht auch ein kränkender und verunsichernder Schritt. Sicher ist: Distanz ist das Gegenteil von Nähe. Fortgehen impliziert, dass jemand zurückgelassen wird. Das kann schmerzhaft sein.

Mit Augenmass und Respekt fortgehen

Distanz schaffen kann richtig gut tun – Ungeordnetes sich ordnen, Wertvolles sich vom Wertlosen scheiden. Schlechte Gefühle können verfliegen.
Wer mit der Absicht fortgeht, das Verlorene zu finden, sollte das Zurückgelassene im Auge behalten. Zu weit weg gehen – räumlich oder gedanklich – gefährdet die Verbindung. Parallel gelebten Leben fehlt es am Austausch. Verlaufen sie zu unterschiedlich, droht das Gemeinsame verloren zu gehen.
Wer sich aus den Augen verliert, kann den Weg zurück nicht mehr sehen. Vielleicht ist er verschüttet, der Umweg zu umständlich, der Zug abgefahren. Was, wenn das wieder Gefundene anders als erwartet ist?
Wer mit der Absicht weggeht, das verlorene Du zu finden, tut gut daran, sein Weggehen zu erklären. Zeichen helfen. Ein Glück, wenn die Taube schon bald einen Olivenzweig bringt. Dann ist es Zeit für ein gemeinsames Glas Wein.
Andernfalls löse man den Faden in Würde.

Wenn ein Kind fortgeht

Ein Kind an der Schwelle zum Erwachsenen will sich selbst finden, wenn es auszieht. Junge Menschen am Anfang ihrer Selbstständigkeit befassen sich weniger mit ihren Eltern, mehr mit sich selbst. Erst viel später interessieren sie sich für ihre Eltern. Wenn überhaupt. Ausnahmen gibt es. Beziehungen mit den Kindern auf Augenhöhe machen glücklich. Eine solche zu schaffen erfordert oftmals Distanz voneinander.

Kinder können sich sehr weit von ihren Eltern entfernen. Bis sie sie nicht mehr sehen (müssen)?
Wie verlassene Mütter und Väter wissen, kann der Faden reissen.
Wir Zurückgebliebene können auf sie warten, sollten jedoch nichts erwarten. Wir wissen nicht, was in der Tiefe geschieht, wenn Kinder sehr weit fortgehen müssen, wenn sie die Eltern nicht nur nicht aufsuchen, sondern meiden, den Kontakt sogar ganz abbrechen. Eines erfahren wir: Nach einem Kontaktabbruch ist die Welt der Familie aus den Fugen.

Unsere Kinder, die sehr weit weg gegangen sind, bleiben in unseren Erinnerungen.
Wir dürfen sie immer lieben – und hoffen, dass sie im Weggehen finden, was sie brauchen. Ob sie auch ihre Wurzeln je wieder finden (wollen)? Vielleicht müssen sie sich ein ganzes Leben lang daran abarbeiten?
Uns bleibt das Vertrauen in die Himmelsmächte, die für alle Menschen das Beste bereithalten.
Um dieses Gute zu finden, müssen wir nicht von den guten Mächten weggehen, sondern uns lediglich dafür öffnen. Uns ihnen zuwenden.

Könnte dies auch unter uns Menschen gelten?


Man muss sich einem Menschen zuwenden, wenn man bei ihm ankommen und ihn erkennen will.

Gefunden

Es waren zwei Mönche, die lasen miteinander in einem alten Buch, am Ende der Welt gebe es einen Ort, an dem der Himmel und die Erde sich berühren. Sie beschlossen, ihn zu suchen und nicht zurückzukehren, ehe sie ihn gefunden hätten. Sie durchwanderten die Welt, bestanden unzählige Gefahren, erlitten alle Entbehrungen, die eine Wanderung durch die ganze Welt fordert, und alle Versuchungen, die einen Menschen vom Ziel abbringen können. Eine Tür sei dort, so hatten sie gelesen, man brauche nur anzuklopfen und befinde sich bei Gott. Schließlich fanden sie, was sie suchten. Sie klopften an die Tür, bebenden Herzens sahen sie, wie sie sich öffnete, und als sie eintraten, standen sie zu Hause in ihrer Klosterzelle.

Da begriffen sie: Der Ort, an dem Himmel und Erde sich berühren, befindet sich auf dieser Erde, an der Stelle, die Gott uns zugewiesen hat.

Legende, nacherzählt von Dr. Jörg Zink – deutscher Theologe und Schriftsteller, Predigtpreis 2004 (1922-2016), Zitateheft 2009