»Gesegnet das Schicksal, geglaubt sei sein Sinn«



In seiner Autobiografie erzählt Viktor E. Frankl, wie er auf einem seiner üblichen Spaziergänge am Sonntagnachmittag folgendem Gedanken nachhing: »Gesegnet das Schicksal, geglaubt sei sein Sinn« (Frankl, 2017,65).[1] Schon als Sechszehnjähriger war er überzeugt: »… alles, was einem zustösst, muss irgendeinen letzten Sinn haben, eben einen Übersinn. Diesen könne man nicht wissen, an den müsse man glauben« (ebd.,66).
Der Gedanke an einen Übersinn der schrecklichen Jahre im KZ hat Frankl die grossen körperlichen und seelischen Strapazen und den Verlust seiner Liebsten ertragen lassen. Er musste am Holocaust nicht vollends verzweifeln. Die Hoffnung auf einen Sinn hat ihn am Leben erhalten. Sein Leben erscheint als wandelndes Beispiel für die Haltung, dem Leben auch in aussichtslosen Situationen einen Sinn abzugewinnen. Frankl ist überzeugt, dass der Mensch die Einstellung zu seinem Schicksal wählen kann. Selbst einer leidvollen Situation könne er einen positiven Sinn verleihen. Das sei entscheidend für die Lebensqualität nach einem schweren Schicksalsschlag.
Viele hat er ermutigt, dem Leben mit all seinen Höhen und Tiefen einen tieferen Sinn zu verleihen. Es war seine persönliche Mission, anderen dabei zu helfen (ebd.,172). »Verantwortlichsein, eine Mission haben« erachtet er als Essenz der menschlichen Existenz (ebd.,201). Die von ihm entwickelte Logotherapie, die dritte Wiener Schule der Psychotherapie soll Menschen dabei begleiten, die Verantwortung für ein sinnvolles Leben zu übernehmen.

Gesegnet sei das Schicksal

Vieles im Leben können wir durch Willenskraft gestalten, gewisse Bedingungen bestimmen und ändern, Entscheidungen anhand von Wissen und Intuition fällen. Gewisse Ziele erarbeiten wir uns, einiges wird uns geschenkt. Vieles dürfen wir wählen. Erfahrungen können wir selbst deuten.
Zum Leben gehört auch, dass jederzeit Unvorhergesehenes hineinbrechen kann. Nicht alles ist selbstbestimmt, nicht alles erklärbar, nicht alles steuerbar.
Wer möchte dabei nicht an Gutes denken: Eine beglückende Begegnung, eine unerwartete wohlwollende Geste, eine günstige Wendung, einen überraschenden Einfall, einen Gewinn, eine Heilung, Segen! Gesegnet soll das Schicksal sein, hat sich der junge Frankl erhofft, die Wege von guten Mächten geebnet, vom strahlenden Licht begleitet. Voller Schönheit. Friedvoll.
Manchmal ist das Leben hart, schmerzvoll und überfordernd. Ein Verlust, eine Ungerechtigkeit, ein Krieg, eine Naturkatastrophe, eine Krankheit kann von heute auf morgen alles verändern. Vieles kann für immer unerklärlich bleiben. Wer dann beten kann, der bitte die guten Mächte um Geborgenheit und Weisheit im Leid. Vielleicht taugt die Bitte, dass auch der Schmerz gesegnet sei.
Ist der Mensch seinem Schicksal gegenüber auch manchmal machtlos, muss er seiner Ohnmacht nicht ausgeliefert sein: Er kann den Umständen und Tatsachen einen persönlichen Wert verleihen. Frankl hat an diese Möglichkeit geglaubt und sie erfahren. Viele sind ihm für sein persönliches Beispiel, seine Gedanken und Taten sehr dankbar gewesen. Ich auch.

Woher Sinn, woher der Segen?

Einem Leid Sinn verleihen, ist eine bewundernswerte geistige Aktion, die Umsetzung in eine Tat ebenso. Glücklich ist der Mensch, der über sich selbst hinauswachsen kann.
Woher haben wir diese Möglichkeiten, frage ich mich, und was ist, wenn jemand nicht über diese Trotzkraft gegenüber seinem Schicksal verfügt – oder sie verloren hat? Was ist, wenn die Resilienz in Asche liegt oder die Zuversicht einem abhandengekommen ist?

Ich habe immer wieder über den Sinn meines Lebens nachgedacht, auch über die Bedeutung des Verlusts meines Sohnes. Einen Sinn habe ich diesem nie bewusst verliehen. Mit den Jahren habe ich realisiert, wie der Schmerz meine Beziehung zum Leben verändert und die zu Gott vertieft. In mir hat sich die Haltung entwickelt: Trotzdem lieben, glauben, hoffen – mehr lieben glauben, hoffen – immer lieben, glauben, hoffen. Diese Widerstandskraft gegen die Wirrungen des Lebens ist mir geschenkt worden – und immer wieder. Das wachsende Vertrauen in Gottes Segen habe ich mir nicht selbst verliehen. Eingebettet in die allgegenwärtige Gottespräsenz hat sich meine Liebe zum Eigenen und Fremden (schier unbemerkt) vertieft. Mein Mitgefühl für Menschen ist im Leid gewachsen. Und irgendwann habe ich realisiert, wie erfüllend es ist, wenn ich für Menschen da sein darf. Zuhören, begleiten und mitfühlen macht mein Leben lebenswert. Es ist ein Lebenssinn, erwachsen aus dem Verlust.
Frankl war überzeugt, dass wir kraft des freien Geistes dem Leben Sinn verleihen und daran glauben.
Letztlich ist es der Heilige Geist, der ihn schenkt, glaube ich. Wir haben die Freiheit, das Geschenk zu erkennen und anzunehmen. Der Heilige Geist ist es auch, der das Schicksal segnet.


[1] Viktor E. Frankl (2017): Dem Leben Antwort geben. Autobiografie. Weinheim: Beltz Verlag.