
Vor einiger Zeit stiess ich im Magazin der ZEIT auf das Rezept für eine sizilianische Caponata, die vollkommene Aubergine (Rezept am Ende des Textes). Sie sei in sich so vollkommen, als gäbe es Fleisch gar nicht, schreibt Elisabeth Raether über dieses Gemüsegericht und leitet daraus eine Weisheit fürs Kochen, wie fürs Leben ab: Man soll sich nie über das definieren, was fehlt.
Im Haushaltunterricht (vor sechzig Jahren notabene) hatte ich gelernt, dass Fleisch Teil einer vollständigen Mahlzeit ist. Wenn ich heute überlege, was auf den Tisch kommen könnte, denke ich höchst selten an Rindsvoressen oder Hühnersuppe. Fleischlos essen ist eine Gewohnheit. Ich liebe eine Caponata, ein Kichererbsen-Curry oder Linsen-Dal. Fleisch fehlt nicht.
Wenn Fehlendes schmerzt
Während der ersten Jahre nach dem Kontaktabbruch meines jüngeren Sohnes schmerzte mich die Lücke täglich, eigentlich immer. Ein Mangel überschattete mein Leben. Eine verlassene Mutter zu sein, war Teil meines Selbstverständnisses. Das Fehlende durchdrang mich mehr als der Reichtum in meinem Leben wie die Beziehung zum älteren Sohn und seiner Familie, den erfüllenden Beruf, mein Lebenspartner, das Leben in einem sicheren Land.
Als ich das Rezept Vollkommene Aubergine entdeckte, vor 12 Jahren, war ich gefangen in meiner Trauer. Die Weisheit im Text habe ich erst kürzlich wahrgenommen. Heute verstehe ich sie: Stimmt, man sollte sich nicht über den Mangel definieren. Ein Imperativ kann diese Weisheit aber nicht sein. Eher ein Geschenk.
Wenn einem das Liebste fehlt
Der Vergleich von existentiellen Lücken im Leben mit einem Gericht ohne Fleisch hinkt natürlich. Man darf sich fragen, ob ein Leben ohne das geliebte Kind vollkommen sein kann, wie die die fleischlose Caponata ein vollkommenes Gericht ist. Kann ein Leben perfekt sein, wenn ein Partner fehlt, den man nie gehabt hat, oder die Gesundheit einem abhandengekommen ist? Ist das eigene Dorf unter einem Bergsturz begraben, verstehen die Bewohnenden ihr Dasein verständlicherweise als beschädigt, kaputt.
Fehlendes oder Verlorenes kann das Selbstverständnis für eine lange Zeit prägen, vielleicht für immer. Wer im Krieg sein Bein verloren hat, bleibt Kriegsopfer. Wem das Augenlicht abhandengekommen ist, bleibt ein/e Blinde/r. Glücklich ist, wer darüber nicht verbittert und das Gute im Leben dennoch sehen kann. Bereichert ist, wer mit dem Mangel Frieden schliessen und neue Lebensqualitäten und -möglichkeiten entdecken kann.
Wir sind mehr als das Fehlende
Wer bin ich? Die Identitätssuche ist ein lebenslanger Prozess, für junge Menschen zentral, im Alter eine erneute Herausforderung. Wir definieren uns etwa über Eltern- und Partnerschaft, Aufgaben in Beruf und Gesellschaft, über unsere Herkunft, vielleicht über unser Verhältnis zum Immateriellen oder über Besitz und Statussymbole. In unserer zielorientierten Gesellschaft sind wir Loser oder Winner.
Nicht immer erreichen wir, was wir möchten. Manchmal verlieren wir, was wir lieben. An uns selbst oder bei anderen beobachten wir: Das Fehlende hat grosse Definitionsmacht. Ein Verlust kann unser Selbstverständnis stärker prägen als das, was uns bleibt.
Lebensgeschichten können unser Leben dauerhaft beeinflussen. Auch im Positiven. Bleiben wir in den Gefühlen einer schmerzhaften Erfahrung hängen, wird uns das eigene Dasein unvollkommen erscheinen. Wer eine Scheidung nicht überwinden kann, bleibt ein verhärmter Geschiedener.
Nichts muss bleiben, wie es ist. Alles verändert sich. Die Erfahrung eines Mangels kann in den Hintergrund, ein neues Engagement in den Vordergrund rücken, der Blick auf Wertvolles Dankbarkeit schenken, den Schmerz mildern. Im Licht von neuen Erfahrungen und Einsichten sehen wir eine Lebensgeschichte anders. Die Definitionsmacht über unsere Geschichten bleibt uns auch da, wo wir ohnmächtig sind. Ein Leben lässt sich in verschiedenen Versionen lesen.
Alles fliesst
Heute begreife ich mich als sich wandelndes Wesen. Wenn ich voller Sehnsucht nach meinem Sohn bin, weiss ich: Es geht vorüber. Wenn ich glücklich bin, weiss ich: Es geht vorüber. Manchmal gelingt es mir (noch zu wenig), meine wechselnden Befindlichkeiten etwas weniger wichtig zu nehmen.
Täglich erfahren wir, wie brüchig vermeintliche Gewissheiten sind, nicht nur gesellschaftliche Gegebenheiten, auch Annahmen über unser Ich. Gewisse Facetten können sich in Sekundenschnelle verändern: Eine Hirnblutung kann aus einem gesunden einen gelähmten Mann machen.
Über Senioren heisst es: »Er war Informatiker, sie war Ärztin«. Sind sie es nach der Pensionierung nicht mehr? Es ist eine Herausforderung, mit beschränktem Lebenshorizont und weniger Kräften eine neue Identität zu finden. Das gelingt besser, wenn wir dabei weder allzu stark vom Vergangenen noch vom Fehlenden ausgehen. Vielleicht hilft die Einsicht, dass alles fliesst.
Ich glaube, dass wir eines sind und bleiben: Von Gott gewollte und geliebte Wesen. In der Gewissheit einer alles einschliessenden Gottespräsenz bin ich der Knote eines von Gott gewobenen, weltumspannenden Netzes. Gewollt, Gehalten, geliebt, aufgehoben, beauftragt zu lieben – auch wenn uns etwas fehlt.
Rezept Caponata – die vollkommene Olive

Bild und Rezept: https://www.zeit.de/2013/34/wochenmarkt-caponata
Zutaten
Olivenöl
2 schwarze ovale Auberginen, gewürfelt
1 rote Zwiebel, gehackt
3 Stangen Sellerie, nur die zarteren Rippen, in Scheiben geschnitten
1 Bund Petersilie, gehackt
1 El Rosinen
2-3 EL roter Weinessig
2 Esslöffel Kapern
1 Dose geschälte Tomaten
Salz, Pfeffer, getrockneter Oregano
Etwas Zucker
2 EL Mandelscheibchen oder Pinienkerne, kurz in der Pfanne ohne Fett geröstet
Geröstetes (Weiss)Brot
So geht’s
Auberginen der Länge nach halbieren, 15 Minuten lang in kaltes Wasser einlegen. Würfeln.
In grosser Pfanne das Olivenöl erhitzen. Auberginenwürfel darin dünsten, bis sie fast gar sind.
Zwiebeln und Sellerie beigeben. 15 Minuten lang weiter dünsten. Kapern, Rosinen, Tomaten, Essig, Oregano dazugeben. Salzen, pfeffern. Bei kleiner Hitze soll das Ganze einkochen, ca. 15 Minuten.
Die Caponata soll eine sämige Konsistenz haben.
Am Schluss mit Zucker und Essig abschmecken.
Vor dem Servieren Petersilie darüberstreuen.
Geröstete Mandeln oder Pinienkerne über Caponata geben.