Das vierte Gebot


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Mit siebzehn lag mein Sohn mit kalten Händen und aufgedunsenem Kopf in der Notaufnahme. Für seinen Hilferuf hatte er sein Leben riskiert. Trotz seiner Wortkargheit während der Pubertät – mit einem Selbsttötungsversuch hatte ich nicht gerechnet. Ich vertraute auf seinen inneren Wertekompass. Die Geringschätzung seines Lebens hat mich beschäftigt. Eine junge Pfarrerin tröstete: »Gott ist barmherzig.« Dass er gegen das fünfte Gebot handelte: Du sollst nicht töten!, war mir damals allerdings nicht gegenwärtig.

Mein Sohn fand zurück ins Leben. Zehn Jahre später hat er den Kontakt zu mir abgebrochen. Radikal. Während der vergangenen sechszehn Jahre habe ich von ihm drei Nachrichten erhalten, davon zwei Hassmails. Eine verstörende Erfahrung. Manchmal denke ich an das vierte Gebot: Du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren, auf dass du lange lebest in dem Lande, das dir der Herr, dein Gott, geben wird.
(10 Gebote bei: 2. Mose 20)

Vater und Mutter ehren

Wie wir wissen sind Eltern-Kind-Beziehungen selten nur glücklich. Viele Kinder erleiden Mangel an Liebe, manche erleben Gewalt und Kränkung. Können und müssen Kinder ihre Eltern wertschätzen, auch wenn die Beziehung zerstörerisch ist? Wiederkehrende Frustrationen können jede Zuneigung zuschütten. Verachtung und Ungehorsam werden möglicherweise zu einer Strategie des Überlebens.
Dennoch möchte ich die Frage stellen: Kann es auch für (mehr und weniger) Ungeliebte mit der Zeit möglich werden, die Eltern nicht herabzusetzen. Können Kinder neben den Fehlern der Eltern auch deren Lebensleistung und Liebes(un)möglichkeiten erkennen? Können sie lernen, mit den Unvollkommenheiten des Lebens umzugehen?

Das vierte Gebot fordert dazu auf, nicht auf die Eltern herabzusehen. Ehren meint nicht, innig lieben oder immer gehorchen. Es legt Kindern nahe, den Blick auch auf positive Aspekte in der Familie zu richten. Das mag zeitweise unmöglich sein, ein begrenzter Kontaktabbruch sogar Sinn machen. Eine totale Verweigerung ohne jegliche Erklärung ist eine Aberkennung der Würde der Eltern. Sie ist ein Ausdruck der eigenen Ohnmacht – und Macht. Der Wunsch nach Schutz ist gleichzeitig ein Akt von Aggressivität.
Menschen voller Hass können kaum glücklich sein.

Wohlwollend sein

Wenn Kinder erwachsen werden, wenn sie reifen, die Verantwortung für ihr Leben übernehmen, selbst Kinder grossziehen, kann ein neuer Blick auf die Eltern möglich werden.
Frustrierte Kinder (mehr oder weniger zu Recht) können mit den Jahren neue Seiten an den Eltern entdecken. Vielleicht erkennen sie Hintergründe für ein Verhalten, welches kränkend war. Vielleicht können sie sogar Empathie für ihren Vater und ihre Mutter aufbringen. Dann kann Verzeihen möglich werden.
Für Eltern ist es nie zu spät, ihre Schuld, die unbeabsichtigten Fehler, ihr Unvermögen zu erkennen. Noch in späten Jahren ist Zuhören und Bedauern heilend. Die Kritik aneinander mag nicht verschwinden, aber leises Mitgefühl sich bemerkbar machen, neue Wertschätzung erwachen – würde man sich denn gegenseitig zuhören – und den Schmerz anerkennen!
Verstehen und Akzeptanz bringen mehr Freundlichkeit in die Beziehung. Das heisst nicht, dass man sich alle Monate gegenseitig besucht und die familiären Unvollkommenheiten unter den Teppich kehrt. Es geht nicht um romantische Gefühle, es geht um Wohlwollen, selbst wenn Konflikte nicht hundertprozentig bereinigt sind.

Eltern-Kind-Beziehungen sind lebenslange Verbindungen, selbst wenn kein Kontakt besteht. Auch wenn sie von wechselhaften Emotionen begleitet und prägend waren, muss Abhängigkeit nicht sein. Trotz Fehler von Eltern den Kinder gegenüber und trotz gegenseitiger Enttäuschungen kann die Beziehung gelingen.

Das vierte Gebot ist lebensdienlich. Es mahnt Respekt an. Die Achtung muss gegenseitig sein.
Es spricht von einem Leben in Nächstenliebe.
Das ist nicht immer von Heute auf Morgen möglich.
Aber wir dürfen mit dieser Möglichkeit rechnen.
Ich wünsche sie Ihnen allen.