Die Schatten unserer Gefühle


Wir werfen die Schatten unserer Gefühle auf die Anderen und sie die ihren auf uns.
Manchmal drohen wir daran zu ersticken.
Doch ohne sie gäbe es kein Licht in unserem Leben.

Altarmenische Grabinschrift in: Pascal Mercier, 2007: Lea. München: Carl Hanser Verlag. (Erste Seite)

Dem diese Inschrift auf dem Grabstein gilt, muss eng mit den Hinterbliebenen verbunden gewesen sein. Im Guten wie im Schlechten. Die Gefühle des Verstorbenen haben vielleicht seine Liebsten beengt – ohne sie hätte ihnen das Licht gefehlt. Wer wüsste nicht von der Zwiespältigkeit der Gefühle in Beziehungen!
Aufhorchen lassen hat mich der Schlusssatz. »Sind die Gefühle Anderer für uns tatsächlich der (einzige) Ursprung des Lichts im Leben?«, frage ich mich, und: »Woher kommt das Licht, wenn diese düster sind?«
Liebe kann beglücken und ersticken

Liebe kann beglücken und ersticken

Gefühle entstehen, fliessen, oft in die Richtung eines Gegenübers, sie werden stärker, lösen sich wieder auf oder pendeln sich auf einem erträglichen Niveau ein. Leider verläuft dieser Prozess nicht immer harmonisch. Oft sind wir unseren Gefühlen ausgeliefert und können deren Ursachen nicht verstehen. Liebe, Hass oder Eifersucht beherrschen uns – und wir beherrschen damit unsere Lieben.
In Familien können die Schatten der Liebe, welche Eltern auf die Kinder (und umgekehrt) werfen sehr lang sein. Oft sind es Schatten der Angst und manchmal der Enttäuschung über ihr Anders Sein. Die Schatten der Geschwisterliebe sind oft durchzogen von Neid und Eifersucht.
Auf Paaren kann der Schatten von romantischen Liebeserwartungen lasten, die unerfüllbar sind. Enttäuschte Erwartungen können das Leben verdüstern.

Ein Jahr nach dem versuchten Suizid meines Sohnes hatte jemand zu mir gesagt: »Deinem Sohn geht es gut, er will leben. Auf ihm lasten lediglich deine Projektionen.« Sie muss meine Ängste wahrgenommen haben: »Ist er glücklich? Findet er Freunde? Wird er die Anforderungen des Lebens meistern?« Wahrscheinlich haben meine Ängste ihn eingeengt und verunsichert. Wegen meines mangelnden Vertrauens in seine Lebensfähigkeit habe ich mich schuldig gefühlt. Zu spät habe ich gelernt: Vertrauen ist besser. Zu meiner Entlastung will ich die Aussage seines Psychiaters dazu anfügen: »Sie (die Kinder) geben einem auch Anlass dazu (für die Ängste).«
Aber eine tiefe, innige, fürsorgliche Liebe zu meinem verlorenen Kind war und ist die Grundkonstante meiner Beziehung zu ihm, auch nach 16 Jahren ohne Kontakt.
Heute nach langen Jahren der totalen Distanz verknüpfe ich meine Liebe nicht mehr mit Hoffnungen und Erwartungen. Ängste plagen mich seltener. Ersticken muss er nicht mehr an meiner Angst um ihn, aber der Glanz meiner Freude über sein Dasein kann sein Herz nicht berühren. Oder vielleicht doch?

Gefühle sind flüchtiges Leben

Gefühle sind ein Ausdruck unserer Lebendigkeit. Ohne sind wir schon im Hier und Jetzt tot. Gefühlslose Menschen leben ein Schattenleben. Menschen die gefühlsmässig kaum mit anderen verbunden sind, gleichen Schattenmenschen.
Positive Gefühle bringen Freude in unser Leben. Liebe und Zutrauen bauen uns auf. Der Hass kann uns zerfressen, aber wir können uns wehren und daran wachsen.
Greifbar sind sie nicht, diese hellen und dunklen Schatten der Gefühle. Manchmal beschenken sie einen, dann wieder sind sie bedrohlich. Eines ist sicher: Sie ziehen dahin und neue folgen. Gut lebt, wer sich nicht allzu sehr mit ihnen identifiziert und sich nicht von der Gefühlslage Anderer abhängig macht.

Jeder fühlt auf seine Weise

Unsere Gefühle zeigen, wie wir zueinanderstehen: Liebend, versöhnlich, enttäuscht, frustriert, beherrschend. Oft mit persönlichen Enttäuschungen und Erwartungen verknüpft, sind sie Ausdruck des Egos im Hier und Jetzt. Sie entstehen auf höchst individuelle Weise im komplexen Lebenskosmos eines Individuums, ausgelöst durch Bewegungen im Innen oder Aussen. Dass wir einander damit nicht nur Gutes tun, wussten auch die Verfasser der Grabinschrift, auf die einfache Formel gebracht: Wo Licht ist, ist auch Schatten.
Wir wissen, dass wir Andere mit unseren Gefühlen weder belasten noch dafür verantwortlich machen sollten. Das zu lernen ist Hohe Schule des Lebens.

Die Quelle des Lichts


Nun zu meiner Frage: Woher kommt Licht, wenn die Schatten lang und dunkel sind – oder die Lichtgestalt aus dem Leben verschwunden ist?
In der Bibel steht:
»Und das ist die Botschaft, die wir von ihm gehört haben und euch verkündigen: Gott ist Licht, und in ihm ist keine Finsternis.« (1. Johannes 1,5)
Und Samuel hat erfahren: »Herr, du machst die Finsternis um mich hell, du bist mein Licht.« (2.Samuel 22,29)
Das göttliche Licht ist rein, leuchtet immer und in jedes Herz hinein – ganz ohne Erstickungsgefahr. Es will nichts und kostet nichts. Es ist ein Angebot.
Ich glaube, dass der Mensch Licht in das Leben bringen kann, indem er sich für das göttliche Licht empfänglich macht. Wir können uns für die Quelle dieses ewigen Lichtes entscheiden und uns als Gefäss für dieses Licht zur Verfügung stellen. So werden wir unabhängiger von den Wechselfällen des Lebens und von der turbulenten Welt der Gefühle weil wir glauben:
Es gibt Licht im Leben ausserhalb der Schatten unserer Gefühle.