Am Sonntagmorgen nach der Vollmondnacht


Der Schlaf war kurz und leicht. Der Vollmond hat mich lange wach liegen lassen. Am Morgen hat die neue Wärmepumpe im Garten der Nachbarn die Ruhe frühzeitig beendet.
Es ist dennoch ein guter Morgen. Der frühe Gottesdienst in der Klosterkirche war schlicht, das Orgelspiel perlend.
Jetzt ist es still. Im Haus stören keine Heizungstöne, draussen kein Laubbläser. Selbst die Vögel schweigen. Das Husten der Nachbarin klingt wie aus weiter Ferne. Das Summen des Laptops löst sich in der Stille auf. Für einmal ist auch das inwendige Geplapper verstummt.
Es ist Gottes Zeit. ‘Gottes Zeit, ist die beste Zeit’, heisst eine berührende Bachkantate.
Gott, ich könnte dich jetzt hören.
Es bleibt still.
Ich übe Erwartungslosigkeit – lasse auch diesen Gedanken gehen – und verbleibe in der Stille. »Eine Sehnsucht ist gestillt«, realisiere ich, inzwischen ganz andächtig geworden. Alles ist gut.

Perlen der Erfahrung

Ein Moment äusserer und innerer Stille ist eine Perle, eine erhabene und feierliche Erfahrung.
Als ich die Augen wieder öffne, fällt der Blick auf die aufgehende rote Blüte der Amaryllis. Mir kommt der Satz aus Psalm 103 in den Sinn (15-18):
«15 Der Mensch ist vergänglich wie das Gras, es ergeht ihm wie der Blume im Steppenland:
16 Ein heißer Wind kommt – schon ist sie fort, und wo sie stand, bleibt keine Spur von ihr.
17 Doch die Güte Gottes bleibt für immer bestehen; bis in die fernste Zukunft gilt sie denen, die ihn ehren. Er hält auch noch zu ihren Kindern und Enkeln,
18 wenn sie nur seinem Bund treu bleiben und nach seinen Geboten leben.«  

(Gute Nachricht Bibel 2018)

Auch die wunderschöne Amaryllis, die letzte in dieser Saison wird schon bald verblühen. Jeder stille Moment, jede Vollmondnacht, jeder Lärm – jedes Leben vergeht. Letztlich ist jeder Krieg vergänglich. Ob dem Zustand der Welt müssten wir nicht verzagen. Alles geht vorüber. Wir dürften entspannter leben, müssten uns weniger um Anerkennung bemühen oder die angenehmsten Lebensumstände schaffen wollen.
Weil Gottes Güte ewig ist, dürften (sollten) wir die Waffen strecken und jeglichen Groll fahren lassen. Weil immer Gottes Zeit ist, sind auch die friedvollen Wege schon immer da. Momente der äusseren und inneren Stille öffnen uns für wunderbare Möglichkeiten und lassen uns in der spannungsreichen Vergänglichkeit bestehen.

Gebet

Gott,
ob dem Lärm hören wir die Botschaft der Stille nicht
und übersehen deine Winke.
Ob unserer ungestillten Sehnsucht sind wir blind für Andere.
Ob unserer Sucht nach Anerkennung überfordern wir uns selbst.

Gott,
lass uns, in den Verwirrungen dieser Zeit,
mit dir verbunden sein und bleiben.
Du ermöglichst jedem Wesen
ein sicheres Gehen
durch Zeit und Ewigkeit.

Amen