Wir sehen uns sehr unregelmässig, dennoch empfinde ich die Beziehung zu Maemi als beständig. Maemi ist ein japanischer Name und heisst Lächeln der Treue.
Wir hatten bereits viel geredet, an diesem grauen Januarnachmittag, als meine Freundin aus alten Zeiten auf mein Buch Nägel im Kopf zu sprechen kam. Sie habe meine Geschichte über Davids bewegten Weg mit Interesse gelesen, sagte sie, habe erst nach vielen Seiten realisiert, dass der junge Mann Züge meines verlorenen Sohnes trage.
Vor einiger Zeit hatten wir zwar über unser beider Schreiben gesprochen, mein Pseudonym ist dabei unerwähnt geblieben.
Wir bestellten noch einen Kaffee, sprachen über meinen Sohn, erinnerten uns an Ereignisse aus seiner Kindheit und an meine damaligen Unsicherheiten. Wehmut kam auf. Maemi hatte mir alleinerziehender Mutter damals immer mal wieder ihr Ohr geliehen und den Rücken gestärkt.
»Deine Jungs sind völlig normal«, sagte sie, wenn ich ihr klagte, dass die beiden sich wieder mal (als Einzige im Familienkreis) unerbittlich gestritten hatten.
»Wie geht es dir jetzt damit, dass du ihn nicht sehen kannst?«, fragte sie mich, dabei sanft lächelnd. Wir schauten einander in die Augen. Meine wurden feucht. Ich spürte diese Trauerwelle, die sich mit aller Macht aus der Tiefe über mich ausbreiten will, jede Nervenzelle erzittern lassen und mir den Boden unter den Füssen wegziehen kann.
»Ich heule gleich los«, realisierte ich, war überrascht von der Heftigkeit meiner Gefühle und atmete tief durch. Es blieb bei feuchten Augen. –
In Bezug auf den herben Verlust meines Sohnes bin ich nun, nach beinahe 14 Jahren ohne Wiedersehen offenbar Frau meiner Trauer geworden (in Anlehnung an die Redensart Herr seiner selbst sein, heute nicht mehr passabel). An diesem Januarnachmittag im leeren Restaurant war ich den schweren Gefühlen nicht mehr ausgeliefert.
»Sie hockt noch immer irgendwo, diese tiefe Trauer«, antwortete ich, »doch ich möchte ihr nicht länger einen beherrschenden Platz in meinem Leben einräumen.«
Es ist nicht so, dass ich mit aller Kraft versuche, meine Gefühle im Griff zu haben. Eher ist es ein Entscheid, den Verlust als Teil des eigenen Lebens anzunehmen. Man bleibt darüber traurig, ist es aber nicht immer. Diese Haltung ist langsam entstanden, vielleicht auch, weil ich so viele Tränen habe fliessen lassen, welche jetzt im grossen Tränenmeer der ganzen Welt aufgelöst sind und ihr Gewicht verloren haben. Vielleicht hat all der abgeflossene Kummer Raum für neue Gefühle und Seelenkräfte geschaffen, langsam und schier unbemerkt. Zeit geben, weinen, und in meinem Falle beten – das ist etwas anderes als den Gefühlshaushalt willentlich regulieren.
Gefühlskalt bin ich nicht geworden. Auch nicht verbittert. Eher hat sich mit der Veränderung der Trauer auch die Liebe verändert. Die Liebe zu einem Kind braucht kein reales Gegenüber, kein Wiedersehen, keine gemeinsamen Feste. Das Alles wäre natürlich wunderschön. Doch die Abwesenheit eines geliebten Wesens kann nicht die Liebe zu diesem vermindern.
Ich steh mit einem Fuß im Grabe, spielen eine Violinistin und Harfenistin.
Die Trauer ist sanft, die Wehmut leise, die Liebe zart.
Allen, die etwas Wichtiges verloren haben, denen etwas Wichtiges fehlt, sage ich:
»Die Trauer geschehen lassen – gehen lassen – sich verwandeln und neu beschenken lassen.
Und:
Fragt einander immer mal wieder, wie es geht – mit und ohne Verlorenes. Und überhaupt!«
Danke Maemi für »Wie geht es dir?«