Eine Freundin hat mir von einem Mädchen berichtet, welches sich in seinem Zimmer erhängte. In diesem Text nenne ich die Verstorbene Malorie. Malorie kommt von ‘maloret’, was im Altfranzösischen Unglück bedeutet.
Das Mädchen hatte seine Zimmertüre geschlossen, als der Vater offenbar kurz nach ihm nach Hause gekommen ist. Die beiden hatten kurz davor noch SMS ausgetauscht. Er klopfte aus Rücksicht nicht an die Zimmertüre seiner vierzehnjährigen Stieftochter. Sie hasste das, sie hasste alles. Der Vater wollte Irritation vermeiden. Er wollte alles richtig machen, denke ich. Die Situation in der Familie war mehr als angespannt.
Irgendwann, es muss wohl sehr still geworden sein im Haus, hat er vermutlich doch angeklopft – und die Türe geöffnet… .
Der Suizid eines jeden Kindes erschüttert nicht nur die Nächsten bis ins Mark und in die tiefste Tiefe der Seele. Auch bei Menschen, die weder das verstorbene Kind, noch dessen Familie direkt kennen, so wie bei meiner Freundin, löst er oft grosse Betroffenheit aus. Ein solcher Tod wirkt wie ein schwerer Stein, der ins Wasser plumpst. Er zieht Kreise, von innen nach außen, sie breiten sich immer weiter aus, Tausende von Kilometern. Wenn etwas nicht geschehen darf, dann die Selbsttötung eines jungen Menschen. Wie unglücklich muss das Kind sich gefühlt haben, dass es nur diesen einen, destruktiven Weg sah!
Warum konnte Malories Tod nicht verhindert werden? Diese Frage werden sich ihre Eltern ihr ganzes Leben stellen und wahrscheinlich nie eine Antwort finden. Vermutlich haben sie alles für ihr Kind getan, vielleicht auch nicht alles, vielleicht zu viel, vielleicht auch nicht immer das Richtige. Bestimmt wollten sie das Beste für ihre Tochter. Alle Eltern wollen das und werden doch schuldig am eigenen Kind. Auch ferne Menschen stellen sich Fragen nach Ursache und Schuld, wenn ein (junger) Mensch sein Leben wegwirft. Man sinniert, schweigt, trauert, ist erschüttert. Grosse Ratlosigkeit macht sich breit. Man kann das unsagbare Leid von Eltern, Grosseltern, Geschwistern bloss erahnen, wenn jemand aus der Familie das Leben nicht lebenswert findet!
Malories Vater wird das schreckliche Bild seiner verstorbenen Tochter sein ganzes Leben in sich tragen. Er musste das schier Unsagbare seiner Frau mitteilen. Die Eltern müssen damit vor die Türe treten, einkaufen und arbeiten gehen, damit weiterleben. Sie werden nie wissen, was möglich gewesen wäre. Das Leben ihrer Tochter ist beendet. Ein Dasein ohne Malorie scheint ihnen gewiss manchmal schier unmöglich zu sein, deren Suizid wird ihr Leben lange überschatten. Vielleicht finden sie einen Umgang mit ihrem tragischen Verlust. Vielleicht haben sie Erinnerungen, die trösten. Irgendwann. Vielleicht werden sie, wer weiss, dankbar sein, dass sie Malorie während einiger Jahre in ihrem Leben begleiten durften. Vielleicht finden sie etwas wie Sinn, sogar im frühen Tod ihres Mädchens, oder Trost im Gedanken, dass ihrer Tochter ein allzu schwieriges Leben erspart geblieben ist. Vielleicht dürfen sie an Gott glauben, in dessen Liebe ihr Mädchen nun aufgehoben ist. Möglicherweise bleiben nur Sinnlosigkeit, Verzweiflung und Enttäuschung übrig.
Malories Entscheid hat weite Kreise gezogen. Mich hat er an den misslungenen Suizid meines Sohnes erinnert. Er hat sich mit siebzehn ein Hanfseil um den Hals gelegt. Es riss. Ich musste ihn nicht tot auffinden. Er habe gehofft, dass es reisst, sagte er mir eines Abends im Spital. An diesem kalten Januarmorgen im Jahr 2000 hat er statt des Nylonseils das Hanfseil gewählt. Er hat um Hilfe gerufen – und welche angenommen. Damals, vor zweiundzwanzig Jahren dachte ich, dass mein Leben für immer getrübt sein würde, obwohl mein Sohn überlebt hat. Die Tatsache, dass er nicht leben wollte, Hand an sich legte, hing lange wie ein dunkler, schwerer Schatten über mir. – Dieses Jahr habe ich am Jahrestag seines versuchten Suizids nicht daran gedacht.
Malories Tod hat mir erneut bewusst gemacht, dass mein Sohn lebt. Ich bin dankbar, dass er sein Leben nicht in einer Phase beendet hat, wo er kaum ahnen konnte, wie es sein könnte. Dankbar bin ich für sechsundzwanzig Jahre gelebte Beziehung. Jetzt hat er sich mir doch weggenommen, mich aus seiner Existenz getilgt. Er hat mir meine Mutterschaft aberkannt, wie einige Leser und Leserinnen wissen. Das ist jetzt schon beinahe vierzehn Jahre her – bleibt schmerzhaft – tut aber schon weniger weh. Mein Leben ist oft heiter. Und mein Sohn findet seinen Weg.
Die zurückgebliebenen Eltern von Malorie tun mir so unsagbar leid. Ich kann mir ein wenig vorstellen, welch schwere Zeit sie durchleben. Wie müde müssen sie sein. Wie enttäuscht. Malories Entschluss ist definitiv. Das Mädchen hat den Eltern jede Chance genommen, sie zu verstehen, ihr zu sagen, dass sie sie lieben. Sie dürfen weder hoffen noch erleben, dass ihre Tochter doch noch die Kurve kriegt. Wohin fliesst nun ihre Liebe für ihren Lebensmittelpunkt, das Kind, das nicht leben wollte? Wie kommen sie mit ihren Scham- und Schuldgefühlen zurecht? Wie gestalten sie ihre Zukunft? Malorie hat keine. Ihr Leid in dieser Zeit ist beendet. Sie hat Frieden gefunden. Ich denke in Liebe an ihre zurückgelassenen Eltern und verneige mich vor ihrem Schmerz und Schicksal. Hoffentlich erfahren sie viel Zuwendung, Trost und Liebe.
Der Rest ist Schweigen.