»’Warum ziehst du dich so an? Du bist eine Schlampe!’, sagte eine alte Frau zu mir, als ich auf den Bus wartete. Nach einem kurzen Halt ist sie weitergegangen. Ich sagte nichts, denn sie war alt.
Meiner Mama habe ich davon erzählt, sie hat bloss gelacht.«
Sheryl erzählte mir von dieser Demütigung an der Bushaltestelle, nachdem wir gemeinsam zum Thema Weihnachtsbaum recherchiert hatten. »Warum haben wir zu Weihnachten einen geschmückten Baum, warum legen wir Geschenke darunter?«, wollte sie wissen. Obiges Plakat dazu hat sie ganz alleine zuhause gemacht.
Sheryl ist dreizehn. Ihre Eltern sind geschieden. Der Vater, ein Kurde, sähe gerne, wenn seine Tochter ein Kopftuch trüge. Manchmal geht er mir ihr ins Kino. Auf ihren Besuchen bei ihm schminkt sie ihre jüngeren Halbschwestern oder wechselt die Windeln des Kleinsten. Die Mutter ist Philippinerin. Sie fährt mir ihrem Freund Touren auf einem schweren Töff. Wenn Sheryl allein ist, sie ist es oft, putzt sie die Wohnung, kocht etwas oder informiert sich im Internet über den Werdegang zur Flugbegleiterin. Für diesen Beruf muss man 158cm gross sein. Noch ist Sheryl ein kleines Mädchen.
Sie besucht eine heilpädagogische Schule. Wenn ich mit ihr (als Seniorin im Klassenzimmer) arbeite, fällt mir auf, dass sie gute Fragen stellt, eine schnelle Auffassungsgabe hat und sehr kommunikativ ist. Für die Probleme der anderen Kinder zeigt sie sehr viel Empathie. Mathematik ist für sie schwierig, auch das Schriftliche. Würde sie ihre letzten Schuljahre auch in einer heilpädagogischen Schule zubringen, wenn sie weniger komplizierte persönliche Bedingungen hätte, in ihrer Freizeit nicht so oft allein in Einkaufszentren herumgetrödelt wäre? Unverblümt erzählt sie von ihrem Hausverbot in Coop, wo sie gestohlen hat und ist ganz erstaunt, dass ich das noch nie gemacht habe, stehlen.
Die kleine Sheryl ist mit ihren grossen, wachen, braunen Augen nicht zu übersehen. Sie schminkt sich, wie andere Mädchen es auch tun, sie trägt Schlaghosen, wie andere auch, oder zerrissene Jeans. Sheryl ist schöner als andere. Ich denke, sie ist auch tapferer als andere, lebenstüchtiger. Mich beeindruckt, wie sie ihr Leben mit ihren schwierigen Bedingungen meistert. Chapeau!
Du bist eine Schlampe
Ursprünglich bezeichnete dieses Schimpfwort eine Frau mit einem ungepflegten äusserlichen Erscheinungsbild. In der heutigen Umgangs- und Jugendsprache bezeichnet der Begriff Frauen mit häufig wechselnden Geschlechtspartnern. »Insbesondere unter gleichaltrigen Mädchen wird das Wort Schlampe zur Rufschädigung als starkes Schimpfwort für Mädchen oder Frauen, die nicht den sexuellen Normvorstellungen entsprechen, verwendet.«[1]
Sheryl pflegt sich, zieht sich modisch und gut an. Schlampig sieht sie keineswegs aus.
Was veranlasst eine ältere Person, ein Mädchen anzupöbeln – aus dem Nichts heraus? Woher nimmt sich jemand das Recht, eine Jugendliche mit exotischem Aussehen Schlampe zu schelten. Dunkler Teint, lange braune Haare, lange Wimpern – und schon gilt Frau als Flittchen und als Sexobjekt. Das ist empörend. Ich schäme mich für diese alte Frau, was immer auch ihr Lebenshintergrund sein mag.
Sheryls Erfahrung ist als eine Folge von stereotypen Wahrnehmungen einzuordnen. Viele Menschen verknüpfen ein südländisches Aussehen gedankenlos mit einem ausschweifenden Sexleben. Frauen (und Männer) sind dem ausgesetzt. Sheryls Mutter hat über die Erniedrigung ihrer Tochter gelacht, sie muss an ihr abgeprallt sein. Hat sie mit solchen Kränkungen leben gelernt? Hat sie gar eine Wahrheit akzeptiert, die keine ist?
Der Gedanke betrübt mich, dass schon Mädchen auf ihren Wegen sexistisch und rassistisch beleidigt werden, notabene von einer älteren weiblichen Person. Die vulnerablen Kinder aus prekären Verhältnissen verdienen von uns älteren Menschen ganz besonders Interesse, Verständnis und Zuwendung.
Worte schaffen Wahrheiten
Was wäre gewesen, wenn die alte Frau Sheryl ein Lächeln geschenkt, oder ihr zugenickt hätte?
Was wäre gewesen, wenn sie einfach gesagt hätte: »Guten Abend, komm gut heim.«
Was wäre gewesen, wenn sie ihren Unmut über Ripped Jeans nicht an der Jugend ausagiert hätte, wenn sie still nach Hause gegangen wäre, vielleicht mit einer Bekannten ihr Unverständnis für zerrissene Kleider geteilt hätte?
Was wäre gewesen, wenn sie ihre stereotypen Gedanken hinterfragt hätte? Keine Unwahrheiten bestätigt hätte?
Sheryl ist ein wacher Teenager mit Zukunftsplänen.
Sie recherchiert gerne im Internet.
Sie ist fürsorglich, hat eine liebenswürdige Ausstrahlung.
Sie möchte besser werden in Rechnen, ihre Hausaufgaben regelmässiger wahrnehmen.
Sie ehrt das Alter. Sie wehre sich schon, wenn junge Menschen sie beleidigen, bei Alten sage sie nichts, hat sie mir erklärt.
Noch kann Sheryl strahlen.
Ich wünsche ihr weniger Vorurteile.
Ich wünsche ihr alles Glück dieser Welt.
[1] https://de.wikipedia.org/wiki/Schlampe (gelesen am 2.12.2022)