
Kennen Sie das? Sie hören ein bekanntes Musikstück und schon ist sie wieder da, die Trauer über einen grossen Verlust. Bachs Arioso aus der Kantate 156 »Ich steh‘ mit einem Fuss in Grabe« löst bei mir regelmässig Wehmut aus. – Konditionierung?
Ich lernte diese berührende Musik per Zufall kennen, damals, als mein Junge mit 17 Jahren nicht mehr leben wollte. Sie hat mich jeden Abend getröstet. Heute weckt sie Erinnerungen – und Sehnsucht – bringt immer wieder Trost und Ruhe. Die Trauer fordert ihre Zeit. Tränen gehören zum Leben. Der Verlust eines Kindes sei kaum überwindbar, berichten Eltern über ihre schmerzensreiche Erfahrung.
Inzwischen bin ich weniger überrumpelt, wenn die Trauer, irgendwann und irgendwo, über mich kommt, etwa wenn der junge Mann vis à vis im Zug dem verlorenen Sohn ähnelt – welcher ja irgendwo herumspaziert.
Als meine Grossmutter gestorben war, es ist sehr lange her, da trug meine Mama während eines Jahres schwarze Kleidung, mein Vater einen schwarzen Knopf am Revers und ich eine schwarze Schürze. Nach Ablauf der Trauerzeit durfte man wieder tanzen gehen und fröhlich sein.
Für Trauer gibt es kein Ablaufdatum. Trauer ist eine fliessende Gemütslage, wie auch alle anderen Emotionen, immer wieder kommend und immer wieder auch gehend. In meinem Fall ist sie oft verknüpft (aber nicht nur) mit der unfassbaren Abkehr eines Menschen, der einem die tiefsten Gefühle entlockt hat.
Nein: So wie es aussieht, werde ich wohl nie ausgetrauert haben. Und: Es ist nichts Falsches dabei, auch nach vielen Jahren manchmal sehr traurig oder wütend zu sein über Unfaires im Privaten – und solches in der Welt. Wir dürfen trauern. Und würdevoll weitergehen.
Würdevoll trauern
Damit leben, dass ich meinen Sohn nie sehe, noch nicht einmal seine Koordinaten kenne, er mich eine schlechte Person findet, das geht inzwischen. Die Erfahrung von so viel Unerklärlichkeit hat mich in Bezug auf meine Wirkmöglichkeiten allerdings bescheiden werden lassen. Die Würde habe ich behalten. »Würde heisst annehmen, was einem abverlangt wird, ohne seine Haltung zu verlieren«, schreibt Gabriele von Arnim (2021, 84).
Verwaiste Mütter müssen sich nicht selber geringschätzen, das tun möglicherweise genug andere, wenn ihre Kinder sie vergessen wollen. Wir sollten uns vor dem Gefühl bewahren, nicht genügt zu haben (in meinem Fall schwierig, da ich immer hohe Ansprüche an mich stelle). Dennoch: In weiten Teilen war ich bestimmt eine »good enough mother« (frei nach Donald Winnicott, 1952), auch wenn ich gern eine beste gewesen wäre. Lehnen uns unsere Kinder ab, sollten wir uns nicht auch noch selbst ablehnen. Wir sollten uns nicht ständig mit den kritischen Augen des vorwurfsvollen Kindes betrachten. Wir würden sie dadurch zu mächtig machen. Können wir unsere Mängel annehmen, auch den Mangel in diesem Leben an sich, gelingt es uns eher, mit den Brüchen im Leben weiterzugehen. Wir lernen, aus den harten Erfahrungen etwas Gutes machen
Zum Schluss eine wunderbare Zusage, nachzulesen in den Psalmen. Sie gilt auch für alle Mütter, Väter und ihre Kinder, wie auch immer sie zueinanderstehen.
»Der HERR ist mein Hirte, darum leide ich keinen Mangel.« Psalm 23,1
Literaturhinweis
Gabriele von Arnim (2021): Das Leben ist ein vorübergehender Zustand. Hamburg: Rowohlt Verlag.
Die Autorin erzählt schonungslos über ungeahnte Herausforderungen im Angesicht von Krankheit und drohendem Verlust ihres Partners.