Ein Engel im Garten

Wenn wir den Kontakt zu einem Kind verloren haben, fehlt das Heute mit dem geliebten Menschen. Einst waren wir innigst miteinander verbunden, nun bleibt die Sehnsucht nach einem Wiedersehen. Ein einseitiger Kontaktabbruch kann uns aber die Erinnerungen nicht nehmen, auch nicht die Gedanken.
Nach dreizehn Jahren praktisch ohne Lebenszeichen (ausser zwei verstörenden Mails) denke ich zwar täglich, aber weniger intensiv an meinen Sohn. Als gestern die Strassen leer waren, das Fernsehen übertrug das EM-Spiel Schweiz-Italien, stellte ich ihn mir fussballguckend vor dem Bildschirm vor. Heute habe ich mir vorgenommen, wenn immer möglich in vertrauensvoller Weise an ihn zu denken. Und das konsequenter als bis anhin. Das hat mit einer Überraschung zu tun.

Mein Mann und ich hatten während des strengen Lockdowns die Bewohnerinnen und Bewohner, welche wochenlang in ihren Zimmern verbleiben mussten, mit kleinen Aufmerksamkeiten überrascht. Die Chefin höchst persönlich bedankte sich mit einem Rosenstöcklein. Ihr Besuch entpuppte sich als persönliches Highlight. Die grazile Frau zwischen fünfzig und sechzig erzählte von ihren gewaltigen Herausforderungen während der intensivsten Phasen der Pandemie. Wir waren tief beeindruckt. Auf die Frage, woher sie die Kraft dafür hatte, zeigte sie nach oben, strahlend, selbstverständlich. Ihr Vertrauen in Gott wirkte als die natürlichste Sache der Welt. Sie erzählte von ihrem Gottvertrauen bei der Arbeitssuche, bei der Begleitung ihrer Kinder – immer. Ihre Heiterkeit wirkte ansteckend. Ein Engel sass im Garten. Mein eigener Glaube kam mir ein bisschen blutleer vor. Ich wünschte mir mehr Vertrauen in das Leben.

Vertrauen kann man nicht kaufen. Vertrauen können ist nicht machbar. Eine vertrauensvolle Lebenshaltung ist ein Geschenk, Vertrauen in Gott ist Gnade. Wenn ich daran denke, dass ich mich ganz und gar auf Gottes Liebe und Hilfe zur rechten Zeit verlassen darf, wird mir leicht. Und wenn ich mir gewahr werde, dass Gottes Heilszusagen für alle gelten, für meinen verlorenen Sohn, für Sie, die Sie diesen Text lesen, für Ihre Kinder, die Sie verloren haben, oder noch begleiten dürfen, für Alle, die ein Leid tragen, dann fallen die Sorgen ein Stück weit ab. Die Erdenschwere wird erträglicher.

Dass wir wichtige Dinge im Leben nicht steuern können, haben uns die Kinder, die sich von uns abgewendet haben, auf brutale Weise vorgeführt. Das macht demütig und in gewisser Weise auch klarer blickend. Mit Gott in unserem Leben müssen wir nicht tun wollen, was wir sowieso nicht tun können. Wir dürften mehr vertrauen, wie der Engel in unserem Gärtchen – und in Anlehnung an Theresa von Avila beten:
Nichts muss uns ängstigen, Gott allein genügt.