Eine gute Mutter lässt ihr Kind immer wieder wissen, dass sie es liebt – was immer es auch tut. So sagt es mir mein innerer Wertekanon.
Was, wenn mein verlorener Sohn dies ja gar nicht lesen will – gar nicht wollen kann? Seiner Meinung nach bin ich ja gar nicht seine Mutter. Einmal mehr hat er im Rahmen einer familiären Adressbereinigungsaktion im Zusammenhang mit einem sehr traurigen Todesfall nichts von sich hören lassen. Sein Vater überbrachte ihm die traurige Nachricht und liess mich wissen, dass unser Sohn seine Mailadresse bereits vor einiger Zeit geändert hat, angeblich wegen verlorenem Passwort. Er will weder Kontakt mit seiner Mutter noch mit seiner grossen Familie mütterlicherseits. Er spaltet sie ab.
Dieses Jahr habe ich ihm zum ersten Mal seit seinem Kontaktabbruch keine virtuellen Festtagsgrüsse und Neujahrswünsche geschickt. Die einzige mir verbleibende Kontaktmöglichkeit einer SMS via Telefonnummer nutzte ich nicht. Etwas sage Nein. An ihn gedacht habe ich hingegen wie jeden Tag – nach dem Ärger zärtlicher als sonst. Doch die Vorstellung, dass meine an ihn gerichteten, möglicherweise unerwünschten Worte, irgendwo ungelesen im virtuellen Nirwana herumhängen, nahm mir jeden Elan, ihm zu schreiben.
Was ich damit sagen will? An besonderen Tagen empfinde ich das Fehlen meines Sohnes noch immer besonders intensiv. Ich muss mir ihm gegenüber immer wieder eine neue Haltung erarbeiten. Ein sich abgewendetes Kind spaziert weiterhin in der Welt herum. Die Beziehung ist von meiner Seite her nicht beendet, die Situation kann sich wandeln. Nichts ist in Stein gemeisselt. Die Ungewissheit aushalten, ist Ausdruck von Lebendigkeit. Ich möchte im Hinblick auf diese komplizierte innere Angelegenheit nicht lebendigen Leibes sterben. Ständig grübeln, beispielsweise über persönliches Ungenügen in vergangenen Zeiten, will ich hingegen auch nicht. Es gibt glücklicherweise die anderen Tage, an welchen der persönliche Verlust besser integriert ist und weniger Klärung von Gefühlen und Gedanken erfordert – wie beispielsweise ein Neujahrsbeginn.
Gestern Morgen wurde mir während der täglichen stillen Zeit ein befreiender Gedanke über das menschliche Ungenügen geschenkt. Wer von uns hat nicht schon Menschen weh getan – aus persönlichem Ungenügen? Wenn wir dadurch an Menschen schuldig geworden sind, sollte uns deshalb niemand schuldig sprechen. Sprechen auch wir niemanden dafür schuldig.
Wer im christlichen Glauben lebt, darf ausserdem gewiss sein, dass Gott unsere Schuld von uns nimmt.
»So ferne der Morgen ist vom Abend, lässt er unsere Übertretung von uns sein,«
heisst es im Psalm 103,12.