Ja, ich denke auch nach mehr als elf Jahren ohne Kontakt zu meinem verlorenen Sohn jeden Tag an ihn. Er ist mehr in meinen Gedanken und Gebeten als der Sohn, der mir geblieben ist.
Die Traurigkeit über sein unerbittliches Schweigen ist milde geworden. Doch, ich habe ein gutes Leben, sage ich zu mir und zu den wenigen Menschen, die um die Tragweite der totalen Abwendung eines geliebten Kindes wissen. Die Freude sprudelt zwar nicht pausenlos aus mir heraus – hat sie auch gar nie getan. Das ist es nicht, was ich mit einem guten Leben meine. Eher, dass ich öfters als früher eine innere Zufriedenheit über meine Teilhabe an Gottes Schöpfung empfinde, eine stille Heiterkeit, auch wenn ein tiefer Schmerz mich manchmal wieder böse erwischen kann.
Was den Schmerz befeuert
Diesen Sommer feiert mein Älterer seine vierzig Lebensjahre. Es ist für mich eine grosse Freude, wie er mit seiner Lebenskraft überall gute Stimmung und Zuversicht verbreitet. Voll im Leben stehend sind ihm viele Menschen zugetan. Sein Bruder wird an seiner Party fehlen, das Geburtstagskind, soweit ich das beurteilen kann, fröhlich darüber hinweggehen. Mir tut die Abwesenheit eines geliebten Menschen weh.
Der Vater unseres gemeinsamen Sohnes – er ist im Kontakt mit ihm – macht sich manchmal auch Sorgen um ihn. Er berichtet mir gelegentlich über seine Eindrücke. Ich bin dankbar, dass ich auf diesem Weg ab und zu etwas vernehme, höre gerne, dass er die akute Corona Zeit trotz seiner Vulnerabilität gut überstanden hat. Die andere Seite der Medaille ist, dass die gut gemeinten Mitteilungen mich damit konfrontieren, dass der Vater im Austausch mit ihm sein kann – ich nicht. Das befeuert den Schmerz und reisst das dünne Häutchen auf der mühsam geheilten Wunde auf. Mein Sohn fehlt mir.
Reden über den Verlust tut weh, wenn das Gegenüber kein Interesse an meiner Befindlichkeit aufbringen kann. Ihn tot schweigen ist ebenfalls verletzend. Natürlich möchte ich mein Leid teilen. Die Spannbreite des Erträglichen aber ist gering.
Die Situation ist ausgesprochen kompliziert, die Seelenlage diffizil.
Seelischem Schmerz vorbeugen
Ich habe keine Wahl, muss mit meinem Kummer leben.
Was tun? Welche Strategien sind hilfreich? Das Gesprächsthema umschiffen? Kränkungen über das Desinteresse wegstecken? Hilfe einzig bei Gott suchen?
Mir bleibt nichts anderes, als annehmen was nicht annehmbar ist. Immerhin macht mir die unfreiwillige Herausforderung heute weniger Angst. Ich bin weniger verzweifelt, habe kaum noch Schuldgefühle, bin selten anklagend, verspüre kein Selbstmitleid. Ich stelle zufrieden fest, dass mich das Glück vollständiger Familien freut. Es evoziert ein bisschen Wehmut aber keinen Neid. Und wenn der Schmerz mich erneut richtig quält, dann erinnere ich mich, dass er vorüberziehen wird. Ich bin ihm nicht ausgeliefert. Ich kenne ihn inzwischen: Ah, so fühlt sich ein existentieller Schmerz an, sage ich zu mir und wende mich an Gott, gehe in den Wald oder weine an einem ruhigen Ort.
Schweres Leid belastet das Leben (zeitweise), muss dieses aber nicht bedrohen, auch nicht alle Freude auffressen. Und wenn der Dolch wieder in der Wunde wühlt, hat er mit den Jahren weniger Kraft. Auch seelische Verletzungen wollen heilen. Vielleicht heilt eine Wunde nach jedem überstandenen Schmerz wieder etwas tiefer. Ich erfahre es so.
Den Schmerz um jeden Preis vermeiden kann nicht die Antwort auf einen tiefen Kummer sein, denn: Kein Schmerz, keine Freude. Wer den Schmerz nicht will, dem kann auch die Freude abhandenkommen.
Für das grosse Lebensfest meines Ältesten gucke ich mir etwas von seiner Lebensweisheit ab: Das Glas ist halbvoll. Er wird ein fröhliches, unbekümmertes Fest haben, denn er hat viel Grund zur Freude und ist ein Meister darin, auf das Gute zu achten.
Wenn die Wehmut heranschleichen will, darf sie das. Ich werde mich dem Hellen zuwenden. Davon wird es genug haben.
Für Fragen nach meinem abwesenden Sohn aktiviere ich eine Standardantwort. Schiessen Tränen ein, habe ich auch dafür eine: »Das ist ein trauriges Thema. Es ist nicht der passende Rahmen, darüber zu sprechen. Geniessen wir jetzt das Fest.«
Die für mich schmerzvolle Abwesenheit meines Sohnes soll kein Tabu sein – aber auch kein Gesprächsthema werden.
Sanfte Gnade – heitere Freude
Das Fest ist vorüber. Es war sehr gut. Aufgestellte junge Leute, zufriedene Kinder, feines Essen und grosszügige Räumlichkeiten haben ein leichtes Ambiente erzeugt. Im kleinen Kreis von Oldies gab es einen schönen Austausch. Überraschende Begegnungen mit Freunden meines Sohnes aus früheren Jahren haben mein Herz erwärmt. Er selber war stolz und glücklich.
Ich fühlte mich zugehörig. Selten habe ich mich an einem Fest so gut gefühlt?
Warum nur habe ich mir so schwere Gedanken vorab gemacht?
Woher so viel Leichtigkeit?
Das Leid wird sanfter, die Freude ist zurück.
Die Gnade wirkt, wo sie wirkt.