Kürzlich begegnete eine Freundin am Ausgang der mittelalterlichen Kirche von Font dem eindrücklichen Satz:
»Ici la Passion prend fin et la Compassion continue.«
Paul Claudel stellt diese Aussage an den Anfang seiner Meditation zur 13. Station des Kreuzweges Jesus, von Klara Marie Faßbinder wie folgt ins Deutsche übersetzt:
»Hier geht das Leiden zu Ende, es schließt sich an das Mit-Leiden.« (Ganzen Kreuzweg lesen)
In der 13. Station wird Jesus vom Kreuz abgenommen und in den Schoß seiner Mutter gelegt. Ist dies nicht ein grosser Trost?
Meine Freundin schrieb mir, dass sie sich beim Lesen stark mit Paul Claudel verbunden fühlte – auch mit mir. Das hat mich berührt. Wir beide hatten kürzlich darüber ausgetauscht, wie schmerzhaft es ist, wenn sich ein liebgewonnener Mensch von einem abwendet. Sie hat den Kontakt zu ihrem geliebten Enkelkind vor zehn Jahren verloren.
Leid wandelt sich
Wir beide erfahren, dass der Schmerz über einen schweren Verlust nicht vorübergeht. Die Wunde bleibt. Doch aus der Wunde kann Neues wachsen, wie ein tiefes Mitgefühl für Mitmenschen, die ein schweres Schicksal tragen müssen. Auch Claudel hat erfahren, dass die Tiefen des Lebens durchlitten werden wollen. Ein neuer Weg lässt sich vermutlich nur in und mit dem Leid finden.
Auf einem Leidensweg geschehen Veränderungen. Der persönliche Schmerz tritt in den Hintergrund. Die Gedanken drehen sich weniger um das Verlorene. In Claudels Meditation kommt das persönliche Leid zu einem Ende. Es ist in einem Grösseren aufgehoben. Es macht dem Mitgefühl für das Leid Anderer Platz. Der Dichter schreibt:
»Ici finit la Croix et commence le Tabernacle.« [1]
Meint Claudel damit, dass eine neue Form von Gottes Gegenwart beginnt?
Leid verwandelt dich
Ich habe heute ein tief empfundenes Mitgefühl für die Sorgen von Menschen, bin traurigen Menschen gegenüber geduldiger als früher, bin ruhiger und zuversichtlicher. Ich kann nicht sagen, wann bei mir die Veränderung vom persönlichen Leiden hin zum Mitfühlen begann. Veränderungen geschehen oft leise und unbemerkt. Wir sind verwundert, wenn sich etwas Neues zeigt.
Ist tief empfundenes Mitgefühl für Verlassene und Verletzte, für Einsame, für Menschen, die Wichtiges verloren haben eine Frucht des eigenen persönlichen Leides? Kann Leid zum Segen werden?
Mitgefühl für andere ist ein Gewinn, eine Lebensqualität. Mitgefühl verbindet und schafft Nähe. Ich bin dankbar, wenn ich zuhören darf und man mir Vertrauen schenkt. Ich muss nicht entsetzt sein, weil ich weiss, dass es weitergeht, anders, auch gut. Schliesslich habe ich den Dolchstoss auch erhalten und bin nicht verblutet.
IBa
[1] Der Tabernakel ist der Aufbewahrungsort von geweihten Hostien. Die katholische Kirche betet darin die leibliche Gegenwart Christi an.
Ich glaube zwar ja nicht an Bibel und so, doch der Gedanke und vor allem das Claudel-Zitat von Leid zu Mitgefühl ist mir auch vertraut. Eigentlich ist es letztlich immer Wandeln, das uns weiterbringt. Oder vielleicht die Bereitschaft, im Leid nicht zu verharren. Kleine Schrittchen sind es oft genug.
Danke für diesen feinen Text.
Danke, liebe Sofasophia
An die Bibel glaube ich übrigens nicht. In diesem Buch finde ich aber eine Menge an Erfahrungen von Menschen mit der absoluten Liebe, die in der Bibel Gott genannt wird. Inspiration und Kraft für lebendiges Leben halt. Es sind schon so viele vor uns den Weg durch das Leid zum Mitgefühl gegangen, in kleinen Schritten, in immer wieder neuen Versuchen.