Wenn Kinder den Kontakt zu ihren Eltern abbrechen, mag dies in ihren Augen ein Aufbruch in ein besseres Leben bedeuten. Den Eltern bring ihr Entscheid oft Verstörung. Joshua Coleman[1] kennt durch seine Arbeit mit vielen Familien die Sichtweise von Kindern und Eltern. Ein solcher Schritt ist meist für beide Seiten schmerhaft. Er weiss, wie Eltern gegen ihre Verzweiflung ankämpfen und an einem erfüllten Leben ohne das verlorene Kind arbeiten können. Nachfolgend einige Essenzen aus seinem Buch, welches sich explizit an verlassene Eltern richtet.
Irina Bach
Die Beziehung zwischen Eltern und Kind ist eng und prägend für jedes Kind. Eltern wollen das Beste für ihren Augapfel. Auch beim allerbesten Willen machen sie, meist unbewusst, grosse und weniger grosse Fehler, welche grosses Leid bewirken können. Die Frage nach Schuldigen ist kaum zu beantworten. Das Feld ist zu weit und zu komplex. Beispielsweise ist ein Kind unweigerlich davon betroffen, wenn seine Eltern noch in belastenden Geschichten mit eigenen Eltern verstrickt sind. Die aktuelle Lebenssituation oder ein Schicksalsschlag kann sie überfordern. Möglicherweise begreifen Eltern manchmal die Wesensart ihres Kindes nicht. Aus den verschiedensten Gründen sind sie manchmal schlicht nicht in der Lage, dem Kind mehr Liebe zu geben, oder ihre Liebe zu zeigen. Schmerzlich für das Kind – schmerzlich für die Eltern.
Coleman empfiehlt (nicht nur verlassenen) Eltern, ihre Unvollkommenheiten vor sich selbst und vor dem Kind einzugestehen. Wer zu Fehlern steht, muss Vorwürfe des Kindes nicht sofort abwehren, sondern kann zuhören und darüber nachdenken. Eltern können so entdecken, womit sie beispielsweise das Kind verletzt, eingeschüchtert, gehemmt, oder ihm das Gefühl vermittelt haben, es sei nicht wichtig. Wer eigene Schwachstellen erkennt, kann in dieser Haltung das Gespräch suchen oder sich schriftlich erklären. Eltern können dem Kind zeigen, dass sie sein Leid ernst nehmen. Sie können ihm sagen, wie leid es ihnen tut, wenn es sich beispielsweise ungeliebt fühlt. Vielleicht wird es sogar möglich, ihm den persönlichen Hintergrund des elterlichen Verhaltens aufzuzeigen. Das Leid des Kindes können sie damit nicht ungeschehen machen. Möglicherweise können sie aber Verpasstes und Unterlassenes wieder gut machen, etwa indem sie ihrem Kind ihre Wertschätzung zeigen, Zeit oder anderes schenken und auf Bedürfnisse des Kindes eingehen.
Coleman erachtet es als hilfreich, wenn verlassene Eltern daran arbeiten, sich selbst die eigenen Fehler und dem Kind sein ablehnendes Verhalten zu verzeihen. Verzeihen kann schwierig sein, besonders wenn man wütend über sich selbst und das Kind, oder in Schuldfragen verstrickt ist. Versteht man eine Situation besser, kann man auch besser verzeihen. Deshalb ist es so wichtig, dass Eltern begreifen, warum sie selber nicht anders handeln konnten und was das Kind bewogen hat, sie zu verlassen. Verzeihen ist eine Voraussetzung, um konfliktbeladene Eltern-Kind-Beziehung zu heilen. Verzeihen kann helfen, einen schmerzhaften Verlust zu bewältigen. Verzeihen verändert die Haltung, entlastet und ermöglicht Loslassen.
Manchmal kann es für Eltern traurigerweise klug sein, wenn sie innerlich Distanz zu ihrem Kind aufbauen, besonders wenn alle Anstrengungen ins Leere laufen und eine Versöhnung nicht möglich ist. Bleibt eine Antwort dauerhaft aus, ist es gut, sich vor wiederholten Enttäuschungen zu schützen. Gelegentliche Zeichen, etwa zum Geburtstag oder zu Weihnachten, Neujahr, signalisieren: «Die Türe ist offen».
Auch wenn kein Kontakt möglich ist, können Eltern daran arbeiten, sich und ihr Kind besser zu verstehen und zu verzeihen. Ein Kind, welches scheinbar nur leben kann, wenn es seine Eltern verlässt, muss in einer schwierigen Situation sein. Es hat vor seinem Entscheid gelitten und wird nachher leiden. Eltern, die das Leid ihrer Kinder nachvollziehen, werden möglicherweise Mitgefühl empfinden. Auch wenn es weh tut, können sie sich so innerlich mit dem verlorenen Kind verbinden. Eine Haltung der Anteilnahme ist eine Haltung der Liebe, ist ein besserer Seelenzustand als eine Vorwurfshaltung. Das gilt auch gegenüber sich selbst.
Die meisten verlassenen Eltern sind von starken Gefühlen wie Schuld, Scham oder Wut geplagt und erleben Zeiten tiefsten Bedauerns, völliger Ohnmacht, Angst und Hoffnungslosigkeit. An deren Stelle kann mit der Zeit Positives treten: Erinnerungen an gute Erlebnisse mit dem Kind, Dankbarkeit für Schönes, hoffnungsvolle Gedanken. Coleman betont, wie wichtig es ist, dass verlassene Eltern ihre negativen Gefühle überwinden lernen. Die Elternschaft nicht nur im schlechten Licht sehen, sondern sich auch Gelungenes in Erinnerung rufen, ist lebensfördernd. Wer als Eltern (teilweise) gescheitert ist, ist nicht gesamthaft gescheitert.
Und wie in allen persönlichen Lebenskrisen hilft die Unterstützung von Familie und Freunden, der Halt im Glauben und ein Einsatz für die Gesellschaft.
Hinweis zum Buch
Coleman befasst sich in seinem Buch «When Parents Hurt» ausführlich damit, wie verlassene Eltern negative Gefühle verarbeiten können. Er gibt Anleitung zur Selbstreflexion und praktische Tipps. Weitere Themen sind: Auswirkungen der eigenen Herkunft für die Elternschaft, Bilder über Erziehung, Persönlichkeitsunterschiede zwischen Eltern und Kind, Umgang mit herausfordernden Teenagers oder mit Scheidung.
[1] Joshua Coleman (2007): When Parents Hurt. Compassionate strategies when you and your grown child don’t get along. New York: HarperCollins Publishers.